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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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waren es trotzdem ganz klar seine Entscheidungen. Nein, wie eine Marionette, die einem fremden Willen unterworfen war, kam er sich nicht vor – er erkannte in allem, was er getan hatte, seinen eigenen Charakter wieder, im Guten wie im Schlechten. Doch ihm schien, als hätte er alle diese Entscheidungen schon einmal getroffen und wäre nun gezwungen, sie nur zu wiederholen, ohne etwas an ihnen ändern zu können.
»Was für ein Humbug«, brummte Tubber und schüttelte die bizarren Grübeleien ab. Wenn er schon nicht schlafen konnte, dann wollte er zumindest über ernsthafte Fragen nachdenken. Und die wichtigste Frage war momentan, wie er an diesem Tag seine Ziele erreichen sollte. Er musste sofort nach der Ankunft in Dresden gegen zehn Uhr vormittags nach Pirna gelangen, dort Fotos machen und dann mit seinen Beweisen nach Dresden zurückkehren, um den amerikanischen Kommandanten zum Einschreiten zu bewegen. Aber das war nicht möglich. Selbst unter günstigsten Bedingungen würde er alleine für den Fußmarsch nach Pirna etwa dreieinhalb Stunden brauchen. Doch dann waren die Nazis wahrscheinlich schon längst nicht mehr dort. Angestrengt überlegte Tubber, um einen Weg zu finden, die zwölf Meilen schneller, sehr viel schneller zurückzulegen.
Und er fand einen Weg. Er war in höchstem Maße unschön, doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Tubber schälte sich aus den Wolldecken, ging hinüber zu Dünnbrot und rüttelte ihn an der Schulter.
Der Polizist erwachte und blinzelte verschlafen. »Was is'n los?«, murmelte er verdrießlich. »Es ist noch mitten in der Nacht!«
»Stehen Sie auf, Kommissar. Ich brauche Ihre Unterstützung«, forderte Tubber ihn im Flüsterton auf.

Heftige Stöße schüttelten den im Zwielicht dahinjagenden Lastwagen, ließen das schwere Gefährt ächzen und krachen. Doch Tubber ließ sich davon nicht beirren.
Wenn ihm in diesem Moment etwas Sorgen bereitete, dann nur der Anflug eines schlechten Gewissens.
»Machen Sie sich wegen der beiden Amis keine Gedanken«, brüllte Dünnbrot, der Tubbers Bedenken erahnte, gegen den Motorenlärm an. »Wenn die beiden Verstand haben, dann folgen die Ihrem Vorschlag und behaupten, dass wir sie zu allem mit Waffengewalt gezwungen hätten. Denen passiert schon nichts.«
Tubber erwiderte nichts darauf; so leicht ließen sich seine Skrupel nicht aus der Welt schaffen. »Hoffen wir, dass sich unsere Damen hinten gut festhalten«, sagte er ausweichend. »Die Fahrt könnte ein wenig rau werden.«
Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Lastwagen raste die Autobahn südwärts, während in der Ferne die Morgendämmerung über dunstverhangene kahle Hügel kroch.
     

Dresden, 9:30 Uhr
    Captain Smith wartete.
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Hinter einem achtlos aufgeschichteten Stapel mürber Trümmerziegel stand er mit verschränkten Armen, verlagerte hin und wieder das Gewicht von einem Bein auf das andere und beobachtete unablässig den Ort, an dem der Lastwagen früher oder später erscheinen musste.
Vor dem feuergeschwärzten Fassadenrest einer Kirche, der wie ein fauliger Zahnstumpf aus einem überwucherten Schuttberg aufragte, befand sich ein kleines Tanklager der Army. Hier, ziemlich genau im Mittelpunkt der entvölkerten Ruinenstadt, machten alle Fahrzeuge auf ihrem Weg zu den Bergwerken halt. Auch der Lastwagen, der Lieutenant Tubber und seine Komplizen mitgenommen hatte, musste hier einen Zwischenstopp zum Betanken einlegen. Smith hatte sich vergewissert, dass es dazu keine Alternativen gab.
Eigentlich hatte es keinen Sinn, um diese Uhrzeit schon auf der Lauer zu liegen, und er wusste das. Man hatte ihm gesagt, dass die Transporte aus Berlin erfahrungsgemäß erst in den Vormittagsstunden eintrafen. Aber Smith folgte seinem Instinkt, mehr noch, er folgte einer unwiderstehlichen Eingebung. Der Wagen würde früher auftauchen, er war sich dessen so absolut sicher, als wäre es schon einmal geschehen.
Und wenn es soweit war, würde er zuschlagen. Die Constabulary hatte er von seinem Vorhaben nicht informiert. Das hier war ganz allein seine Show.
Er musste in Erfahrung bringen, welches Geheimnis hinter dem unerklärlichen Zwilling seiner Notiz steckte; diese Sache ließ ihm keine Ruhe. Er hatte dafür viel gewagt und gegen Befehle verstoßen. Notfalls würde er dem britischen Agenten mit einer Hand die absolut identischen Zettel unter die Nase halten und ihm mit der anderen die

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