Im Jahre Ragnarök
Modergeruch, den nur seit langen Jahren verlassene Gebäude verströmten, stieg er besorgniserregend knarrende Stufen hinauf.
Im ersten Stock gelangte er in einen Raum, dessen Fenster seinen Kalkulationen zufolge zum Marktplatz weisen mussten. Die Fensterflügel mit den kläglichen Resten der zersplitterten Glasscheiben hingen schief in den Rahmen. Von draußen waren Stimmen zu hören, gelegentlich überlagert von blechern zuschlagenden Fahrzeugtüren und anderen Geräuschen.
Angespannt kroch Tubber auf allen vieren zu den Fenstern und hob dann vorsichtig den Kopf, gerade weit genug, um einen Blick ins Freie riskieren zu können, ohne selbst gesehen zu werden.
Was er sah, übertraf seine Erwartungen. Der Marktplatz von Pirna war voller Lastwagen. Bis in die Nebenstraßen standen die wie zur Parade präzise in Reih und Glied aufgestellten Fahrzeuge, die ohne Ausnahme mit den Insignien des Spanischen Roten Kreuzes versehen waren. Überall zwischen den Wagen befanden sich Männer, die sich von der langen Fahrt ausruhten. Sie trugen allesamt die olivbraunen Uniformen des Cruz Roja .
Sofort erfasste Tubber, dass diese aufwendige Tarnung nicht ohne Unterstützung aus Spanien möglich sein konnte. General Franco mochte vielleicht noch vor der unausweichlichen Niederlage des Dritten Reiches das Lager gewechselt und sich zum eifrigen Gefolgsmann der Vereinigten Staaten erklärt haben – doch offenbar hatte er seine alten Freunde, deren Stukas ihm einst den Weg an die Macht freigebombt hatten, nicht vergessen.
Doch Tubber blieb keine Zeit, über diese delikate Entdeckung genauer nachzudenken. Er hörte direkt unterhalb seines Fensters die Stimmen einiger Männer. Und er brauchte sie nicht zu sehen, um zu wissen, dass es sich um Offiziere handelte; wie das grobe Bellen von Sergeanten klang auch der stets mit einem Hauch selbstgerechter Arroganz getränkte Tonfall aller Dienstgrade vom Captain aufwärts überall auf der Welt unverwechselbar ähnlich.
»Schon?«, fragte einer der Männer erstaunt nach.
»Jawoll, wir sind vollzählig«, bestätigte ein anderer. »Deutlich vor dem Zeitplan.
Die Koordination der Konvois funktionierte tadellos.«
»Alle Ausbildungslager aufgelöst, die Mannschaften komplett zusammengezogen ... nu, ich möcht' wetten, da liegt was Großes in der Luft, newahr?«, meinte ein Dritter.
»Mit Sicherheit«, pflichtete der Erste ihm bei. »Und ich bin neugierig, was es ist. Na, wir werden's ja wohl erfahren, wenn wir auf dem Königstein sind.«
»Odinsburg!«, berichtigte ihn ein weiterer Offizier sofort und mit Bestimmtheit.
»Sie wissen doch, dass der Reichsführer der Festung Königstein den neuen Namen Odinsburg verliehen hat.«
»Wie konnte ich das nur vergessen! Also schön, da wir ja bereits vollzählig sind, können wir eigentlich aufbrechen. Haben Sie Einwände? Nein? Gut. Geben Sie Befehl zum Aufsitzen und Abrücken.«
Die Offiziere gingen auseinander, und Tubber, der jedes Wort aufmerksam mitgehört hatte, verzog den Mund in trockenem Spott zu einem kurzen Grinsen. Er war sich nun ziemlich gewiss, dass der Reichsführer niemand anderer als Himmler war.
Zumindest passte der Name Odinsburg perfekt zu allem, was er über die an Besessenheit grenzende Vorliebe des SS-Oberhaupts für die nebelumwallte, düstere nordische Mythologie gehört hatte.
In die Menschen auf dem Marktplatz kam Bewegung. Befehle wurden gebrüllt, Männer sprangen auf die Lastwagen und in die Fahrerhäuser, Motoren wurden angelassen.
Rasch holte Tubber den Fotoapparat aus der Umhängetasche.
Das wird kein zweites Chowdhury! , dachte er triumphierend. Er klappte die Sofortbildkamera auf, blickte durch den Sucher, nahm die umhereilenden Nazisoldaten ins Visier, drückte den Auslöser ...
Nichts geschah.
Er versuchte es nochmals. Wieder reagierte die Kamera nicht. Weder surrte der kleine Elektromotor noch kam ein belichtetes Bild aus dem Vorderschlitz.
Hastig nahm Tubber den Apparat in Augenschein. Er fand auf der Stelle heraus, wo das Problem lag. Es war keine Filmkassette eingelegt.
Gerade noch gelang es ihm, einen schon in der Kehle steckenden Aufschrei in ein verzweifeltes leises Krächzen umzuleiten. Es durfte einfach nicht wahr sein!
Tubber sah aus dem Fenster. Ein Lastwagen nach dem anderen rollte in einer dunstigen Abgaswolke vom Marktplatz, ohne dass er das Geschehen ablichten konnte. Niemals hatte Tubber sich so nah am Rande eines Nervenzusammenbruchs gewusst. Er merkte, dass sein überempfindlicher Magen wieder kurz vor
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