Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
sich an die Rangabzeichen der SS zu erinnern, die er vor undenklich langen Zeiten einmal auswendig gelernt hatte. Aber er war sich absolut gewiss, dass der am Ärmel der amerikanischen Feldjacke aufgenähte grüne Balken und das doppelte Eichenlaub darüber einen Offiziersdienstgrad auswiesen.
»Wen haben Sie denn da eingefangen, Scharführer?«, wollte der Fahrer des Jeeps wissen.
Der Unteroffizier nahm Haltung an und hob den rechten Arm zum Gruß. »Zwei Eindringlinge, Sturmbannführer. Der eine gehörte dem Orden an, wir bringen ihn befehlsgemäß zur Odinsburg. Der andere ist Leutnant John Tubber, ein britischer Agent. Ich wollte ihm gerade A-2 injizieren.«
Grübelnd legte der Offizier die Stirn in Falten und musterte Tubber aufmerksam, ehe er sich mit den Worten an ihn wandte: »Sind Sie am Ende der John Tubber, der Die Topografie der Levante und Kleinasiens und ihre Bedeutung für die Kriegszüge der alten Welt geschrieben hat?«
Maßlos überrascht starrte Tubber den SS-Offizier für einen Augenblick an und brachte zunächst keinen Ton heraus. Aber er fasste sich rasch wieder und bestätigte:
»Der bin ich.«
»Es ist brillant, wie Sie die topografischen Gegebenheiten und ihre Auswirkungen auf die militärischen Operationen darstellen«, bemerkte der SS-Major, setzte dann jedoch kritisch hinzu: »Allerdings haben Sie die Persönlichkeiten aller Feldherren vollkommen falsch gezeichnet und ausgelegt.«
»Das höre ich nicht zum ersten Mal«, entgegnete Tubber halblaut. Er fand es bezeichnend, dass ihm das Schicksal kurz vor seinem Ende noch einen letzten bizarren Tritt versetzte.
Der Offizier schien in Gedanken etwas abzuwägen; dann entschied er: »Sie beide kommen mit mir. Sturmmann, Sie bewachen die Gefangenen während der Fahrt.«
Dünnbrot und Tubber kletterten nacheinander auf die Rückbank des Jeeps; der SS-Mann setzte sich vor sie und hielt die Maschinenpistole auf sie gerichtet. Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, gab der Offizier Gas und jagte den Wagen den ausgefahrenen Feldweg entlang.

Tubber würdigte Dünnbrot keines Blickes. Es war nicht so sehr die Enthüllung, dass der Kommissar Angehöriger der SS gewesen war, die ihn in den Augen des Engländers diskreditierte. Viel schwerer wog, dass der Deutsche diese Tatsache nicht nur verschwiegen, sondern auch noch bewusst durch Lügen verschleiert hatte.
Hatte Dünnbrot nicht mehrmals behauptet, während des Krieges bei den Pionieren gewesen zu sein? Er hatte die Unwahrheit gesagt. Und es war die Art Unwahrheit, die Tubbers Misstrauen hervorrief.
So recht schmeckte Tubber auch nicht, dass ihn ein Deus ex Machina in Gestalt eines SS-Majors vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Er rechnete fest damit, dass dafür noch Schlimmeres auf ihn zukam, wenn er sich auch nicht vorzustellen vermochte, was schlimmer als ein vorzeitiges Ableben durch eine Giftspritze sein konnte.

Nach kurzer Fahrt kam der Königstein in Sichtweite: ein dicht bewaldeter Berg, der das Elbtal hoch überragte und auf dessen Gipfel sich die steilen Mauern einer gewaltigen alten Festung erhoben. Die mächtigen grauen Bastionen wuchsen aus den kahlen Baumkronen empor, reckten ihre Kanten drohend wie gefletschte Zähne nach allen Seiten und schienen mit ihrem unvorstellbaren Gewicht ihre ängstlich niedergekauerte Umgebung zu erdrücken.
» Ehern umschlossen von unüberwindlichen Mauern und schroffem Felsgestade« , murmelte Dünnbrot halblaut beim Anblick der Festung.
Der SS-Offizier musste die Worte gehört haben; er blickte kurz über die Schulter und sah Dünnbrot voller Erstaunen an.
Jetzt erst nahm Tubber die Züge des Sturmbannführers wirklich zur Kenntnis.
Er hatte ein schmales, regelmäßig geformtes längliches Gesicht mit hellen und forschenden Augen, die ihn ebenso intelligent wie kalt aussehen ließen.
»Der X. Gesang der Odyssee?«, fragte der Offizier überrascht. »Erzählen Sie mir nicht, Sie kennen Homer!«
»Auswendig«, entgegnete Dünnbrot kurz angebunden.
»Und etwa auch andere große Werke der Literatur? Nibelungenlied, Faust, das alles?«
Dünnbrot deutete ein knappes, abweisendes Nicken an.
»Perfekt«, meinte der Sturmbannführer erfreut und wandte sich wieder nach vorne. »Schlichtweg perfekt.«

An einem Kontrollpunkt mit einer durch Sandsäcke gesicherten Maschinengewehrstellung hielt der Jeep kurz. Der Offizier erteilte dem Wachhabenden den Befehl, ihn telefonisch auf Odinsburg anzukündigen. Dann hob sich der Schlagbaum und die Fahrt ging weiter.
Tubber

Weitere Kostenlose Bücher