Im Jenseits ist die Hölle los
Indianer denn in Sibirien überleben sollen? In Badehosen? Du hast ja keine Ahnung, wie da manchmal der Frost kneift. Ich habe das viele Winter lang erlebt.«
Durch das Uferschilf ruderte ein gegerbter Indianer in einem kleinen Boot, er sah nach seinen Netzen und fand darin tatsächlich ein paar Fische. Das Wetter war schön, ein sanfter Wind bewegte das Schilf, die Arbeit des Fischers wirkte beneidenswert idyllisch. Aber sie brachte einen kargen Lohn: Als der Mann seine Netze geleert hatte, schaffte er den Fang ans Ufer, ging zu Fuß mehrere Kilometer zu einem Händler und tauschte seine Fische gegen zwei Schachteln Zigaretten und eine kleine Flasche Lampenöl. Diese Einkäufe trug er in seine Hütte und fuhr dann wieder hinaus, um Fische zu fangen. Es war ein stolzer Preis, der beinahe an Diebstahl grenzte, und das fiel auch dem Mütterchen auf:
»Es ist unanständig, dem anderen den Fang eines ganzen Tages für ein paar Zigaretten und einen Tropfen Öl abzunehmen. Der Kerl selber fährt im Jeep und raucht Zigarren. Das mag ich gar nicht mit ansehen, komm, wir gehen.«
Dabei war das längst nicht das Schlimmste, was die Menschen in Bolivien erdulden mussten. Als wir ein Bergwerk besuchten, in dem Zinn abgebaut wurde, zerriss es uns schier das Herz, als wir Zeuge wurden, wie halbwüchsige Burschen mit gebeugtem Rücken das Erz aus den Schluchten hinaufschleppten, wo es in der Hitze von Hand geschürft wurde. Die Menschen dort unten waren schwarz, mager und schweißüberströmt.
»Die armen Bürschchen schuften wie die Pferde… Ach, wie traurig, was Menschen manchmal durchma chen müssen!«
An den Hängen der Berge weideten Lamas, eigensin nige Tiere, bei deren Anblick das Mütterchen staunte:
»Hier sind die Schafe aber groß. Was es auf der Welt alles gibt!«
Unten im Dorf sahen wir, wie ein kleines, etwa zehn jähriges Mädchen die jüngeren Geschwister und die kranke Mutter versorgte und den Haushalt führte: Sie kochte Essen, fegte den Erdboden der Hütte, fütterte die Hühner auf dem Hof, flickte die zerrissene Kleidung, buk dünnes Brot aus dunklem, schmutzigem Mehl. Beim Backen verbrannte sie sich die kleinen Hände an den heißen Ofensteinen, weinte ein wenig, arbeitete aber weiter, weil sie dazu geboren war. Das alte Mütterchen sagte nichts, sondern verließ das Dorf. Sie wollte in die Stadt, da es hier im Gebirge offenbar nur Elend gab.
Als wir die quirligen Vorstädte von La Paz erreichten, empfing uns eine völlig andere Stimmung. Auf den kleinen Märkten herrschte fröhliches Treiben; die Leute vom Lande hatten auf bunten Indianerdecken allerlei Waren zum Verkauf ausgebreitet, Früchte der Regen wälder, Handarbeiten und Schmuck. Irgendjemand spielte Flöte, fröhliches Lachen ertönte. Es wurde geru fen, gefeilscht, gesungen. Kinder und Hunde liefen zwischen den Menschen umher, die Füße beziehungs weise die Pfoten lehmbeschmiert. Das Mütterchen sah sich das fröhliche Treiben mit schräg geneigtem Kopf an und konstatierte:
»Genau wie früher in Karelien.«
Doch fand die Heiterkeit bald ein Ende und schlug unvermittelt in einen blutigen Rausch um, als ein paar Männer auf dem Markt einen Hahnenkampf veranstalte ten. Wetten wurden abgeschlossen, die Veranstalter sammelten die Münzen ein, und dann scharte sich das Publikum um die beiden unglücklichen Hähne, die sich gegenseitig mit den Messern zerfleischten, die an ihren Sporen befestigt waren. Das Mütterchen ertrug dieses rohe Volksvergnügen nicht. Angewidert sagte sie:
»Pfui, ist der Mensch grausam! Was haben die Hähne getan, dass so mit ihnen umgegangen wird?«
Wir besuchten ein Freudenhaus, in dem schüchterne junge Mädchen betrunkenen Männern, hauptsächlich Soldaten, zu Diensten waren. Dann wurden wir zufällig Zeuge, wie eine Gruppe bettelarmer Landarbeiter aus einer Bank gejagt wurde, wo sie vergeblich um einen Kredit gebeten hatten; die Angestellten schleuderten einem Schwall wütender Beschimpfungen hinter ihnen her. Wir sahen auch, wie in einem kleinen, von Fliegen wimmelnden Krankenhaus ein träger Pförtner einer dicken Frau, die an einem Abszess litt, das letzte Geld stahl. Als die Ärmste auf den Dieb aufmerksam machen wollte, bekam sie einen deftigen Tritt in den Oberschen kel, woraufhin ihre Klagen verstummten. In der Innen stadt schleppten Polizisten einen Jüngling mit einem roten Halstuch ab; er war offenbar verhaftet worden, weil er als Linker galt. Er wurde gestoßen, getreten und bekam
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