Im Kerker der schönen Justine
dass es sich um das Personal des Krankenhauses handelte. Eher um die oberen Chargen, die etwas zu sagen hatten. Ärzte und Ärztinnen.
Die gepflegten Wege konnten auch von den Patienten benutzt werden, die nicht unbedingt im Bett bleiben mussten. Und so waren einige nach draußen gekommen. Sie saßen auf Bänken, einige von ihnen rauchten und schnippten die Asche in die Metallschalen, die neben den Bänken an langen Stäben in den weichen Erdboden gerammt worden waren.
Die Häuser bauten sich etwas weiter hinten auf. Dazwischen wuchsen Bäume. Zumindest Birken, die nicht viel Platz einnahmen, auch Fichten waren vorhanden.
Zwar wirkte die Umgebung sehr gepflegt, aber sie war nicht klinisch rein. Man konnte sich hier wohl fühlen und musste nicht bei jedem Schritt Acht geben, wohin man trat.
Justine überlegte, wie sie sich verhalten sollte. Wenn sie sich zeigte, würde sie auffallen, das stand für sie fest. Deshalb wollte sie so lange wie möglich in Deckung bleiben. Sie hatte auch nicht vor, die Klinik von der Rückseite her zu betreten oder auch den Anbau, der wie ein Kasten aussah.
Erst mal hier die Lage checken. Das war am besten. Und so zog sie sich wieder etwas in den Wald zurück und war froh, eine natürliche Deckung zu haben.
Sie wollte die hintere Seite umrunden. Es klappte auch, sie kam gut voran. Plötzlich überkam sie ein warnendes Gefühl und zwang sie anzuhalten.
Es war zu spät.
Jemand hatte sie bereits entdeckt. Es war eine Frau, die es sich hier im Wald bequem gemacht hatte. Sie saß auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Decke und hielt eine Flasche Gin in der Hand. Ihr linker Arm war bandagiert, doch um zu trinken, brauchte sie nur den rechten.
Ihre Augen weiteten sich, als sie Justine Cavallo sah, die vor ihr stand und auf sie herabschaute. Die Patientin ließ auch ihren rechten Arm sinken und stellte die Flasche auf den Boden.
»Dr. Varela«, flüsterte sie, und in ihrer Stimme schwang das Gefühl der Angst mit.
Justine musste sich erst auf die neue Lage einstellen. Sie sagte nichts und lächelte nur.
Die Frau wurde mutiger. »Hören Sie, Frau Doktor, ich weiß ja, dass Sie mir verboten haben, Alkohol im Krankenhaus zu trinken, aber hier ist nicht die Klinik. Ich befinde mich außerhalb. Da drücken Sie doch ein Auge zu.«
Justine schwieg.
»Bitte!«, drängte die Patientin.
Das Schicksal stand auf ihrer Seite. Davon war die Blutsaugerin überzeugt. Ihre Gedanken hatten all das erfasst, was ihr in den letzten Sekunden widerfahren war.
Eines stand fest.
Man hatte sie verwechselt.
Es musste eine Person hier geben, die eine sehr große Ähnlichkeit mit ihr hatte. Es lag praktisch auf der Hand, denn sie hatte diese Person bereits gesehen, und die war ihr bestimmt nicht zufällig über den Weg gelaufen. Hier traf einiges zusammen, und sie war davon überzeugt, dass sie eine Lösung finden würde.
Aber sie wusste auch, dass sie keinen Fehler begehen durfte. Die Frau auf der Decke durfte nicht misstrauisch werden.
Noch steckte die Angst vor Repressalien in ihr. Mit flackerndem Blick schaute sie zu Justine hoch. Sie bewegte ihre Lippen, die blass geworden waren, nur nicht so blass wie die Haut im Gesicht.
»Das ist natürlich nicht gut«, sagte Justine und versuchte dabei, der Stimme einen neutralen Klang zu geben. »Ich denke, da muss man sich etwas einfallen lassen.«
»Nein, noch einmal... und... ich... ich...«
»Sie sollten nicht mehr trinken.«
»Ich weiß, und ich habe es auch nicht in der Klinik getan. Hier findet mich ja keiner.«
»Ach. Und was ist mit mir?«
»Darüber habe ich mich gewundert. Ehrlich. Wo Sie doch vorhin in ihr Haus gegangen sind.«
»Bin ich das?«
»Ja, da, in ihr Haus.« Die Frau streckte ihren gesunden Arm aus und wies in die entsprechende Richtung.
Justine schaute sehr genau hin. Da standen zwei Häuser recht dicht beisammen. In einem lebte also die Ärztin. Wo das war, ließ sich leicht herausfinden. Die Blutsaugerin wusste, dass sie sich nicht so einfach davonmachen konnte. Sie musste die Rolle noch ein wenig spielen.
»Okay, Sie haben zwar gesehen, dass ich in mein Haus gegangen bin, aber nicht, dass ich es wieder verlassen habe. Ich wollte mich noch ein wenig bewegen. Die Waldluft tut gut. Und ich denke, dass dies meine allerletzte Warnung an Sie war.«
»Ehr... ehrlich?« Die Frau konnte es fast nicht fassen.
»Ja, das meine ich so.« Justine deutete zur Klinik rüber. »Aber Sie werden so schnell wie möglich verschwinden, und das
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