Im Kinderzimmer
Quartier eines ruppigen Bekannten zu erlangen, der am Ende der Straße tagsüber schlief, um nachts umher zu streunen, so daß er selbst ab zehn Uhr abends das Lager übernehmen 183
konnte. Der andere teilte gelegentlich Küchenabfälle mit ihm, die er von einem Lokal bezog, dessen Name und Lage er nicht preisgab, auch nicht als Gegenleistung für das, was der Obdachlose ihm mit-brachte. In letzter Zeit aber fand der Obdachlose nicht immer zum Quartier zurück. Sein Orientierungssinn bröckelte wie sein Sprach-vermögen zusehends ab.
Jetzt brannte ihm die Sonne warm auf den Pelz, als er auf einer Parkbank saß und ohne jede Lüsternheit Frauen begaffte – darüber war er längst hinaus, das war längst nicht mehr real. Aber die Blonde, die war nett gewesen, einfach nett. Bei der Erinnerung an den Kleinen in der Karre bekam er schweißnasse Hände. Dumpf war er sich dessen bewußt, daß er an diesem Nachmittag ungewöhnlich behende gewesen war, Glück gehabt, so flink wäre er vielleicht nie wieder, vor allem die Hände. Aber das Haus zu betreten grenzte an Selbstmord. Dem Herrn sei Dank für das Kind in der Karre. Er hob ein schmuddeliges Handgelenk und gab ihm mit der anderen Hand einen Klaps. Ungezogen. Hungrig.
Katherine bereitete das Abendessen zu. Am Wochenende hatte sie einen Rinderbraten gepökelt; er war für den heutigen Abend vorge-sehen. Dazu warmer Kartoffelsalat. Das hieß: Mayonnaise anrühren, aus dem Kräutergarten hinterm Rosenbeet Schnittlauch holen und hacken, neue Kartoffeln aufsetzen. Als Vorspeise gäbe es ein leichtes Cocktail aus gelben Pampelmuseschiffchen mit Garnelen und einem Schuß Sahne. Der Rest Sahne, jeweils nur ein Klacks, käme anschließend auf die zwar gefrorenen, aber aromatischen Erdbeeren.
Um sich beschäftigt und abgelenkt zu halten, hatte sie die Vorräte an Kräckern und Käse überprüft – nicht ihretwegen, sondern Davids –
und hatte festgestellt, daß sie zur Neige gingen. Er mußte mittags kräftig zugelangt haben, und darüber wollte sie nicht weiter nachdenken.
Jeanetta war bettfertig, klagte jedoch über Hunger, den ihre Mutter ihr als echt zubilligte. Katherine deckte für sie mit; laß sie doch essen nach diesem anstrengenden Tag. Darüber hinaus jedoch, bei aller Unzulänglichkeit ihrer mütterlichen Instinkte, wollte Katherine ihre Tochter bei sich haben, wollte hier in dieser Küche heute abend etwas haben, das ihres war. David war so wohlwollend großzügiger 184
Laune gewesen, daß er seine übliche Ungeduld bezähmte, und Jeanetta schien brav sein zu wollen. »Nicht mein Kind«, wie oft hatte er es gesagt! »Nicht von mir, unansehnlich und ungelenk, wie sie ist.
Sieh sie dir doch an!« Obwohl Marys kategorisches Abtun sie beruhigt hatte und obwohl sie sich tröstete mit winzigen Ähnlichkeiten, die sie festgestellt zu haben glaubte, war sich Katherine im Grunde ihres Herzens selbst jämmerlich unsicher. Es hatte ja Claud gegeben, und Claud hatte nicht so schnell aufgegeben. Sie hatte zu Claud nie nein sagen können, hatte um jeden Preis Streit vermeiden wollen, ihr wurde davon übel. Glücklicherweise hatte David sie in der letzten Zeit weniger damit gequält, seit der Einladung des amerikanischen Ehepaars war er gut zu ihr gewesen, und wenn er gut zu ihr war, war sie optimistisch. Sie klammerte sich an die Hoffnung und verscheuchte resolut die Erinnerungen vom Nachmittag, beugte sich über die Speisen und legte mit geschickten, wenn auch nervösen Fingern ihre ganze Liebe zur Ästhetik in die Essenszubereitung. Es würde alles wieder gut, wenn sie sich nur im Griff behielte. Jeanetta spielte vergnügt auf dem Fußboden, sang einer großen, in Jeremys Karre wie eine Königin thronenden Puppe Fetzen von Kinderliedern vor. Katherine hatte keine Ahnung, wo die Puppe herstammte, denn weder sie noch David hatten sie angeschafft.
»Mama, Mama, guck mal!«
»Ja, mein Schatz?« Sie konnte gerade nicht hochblicken, weil die Mayonnaise eben jetzt ihre konzentrierte Aufmerksamkeit erforderte.
Erst nach ein paar Sekunden schaute sie hoch. Jeanetta hatte eine Halskette emporgehalten, dann aber, als die Mutter kein Interesse zeigte, der Puppe – abgelegtes Spielzeug eines der Harrison-Kinder, eine ramponierte Puppe mit altmodischem Kopf: blauen Kulleraugen und feinem blonden Haar – über den Kopf gerammt. Die Kette baumelte der Puppe über ein Auge herab, schwere Goldglieder, jedes dritte mit unaufdringlich hochkarätigem Glitzern versehen, das einem
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