Im Koenigreich der Traeume
Pferde und flatternden Wimpel. Auch wenn sie sich vorgenommen hatte, nicht darauf zu achten, was die Leute von ihr hielten, wurde sie plötzlich nervös, und ihre Hoffnungen regten sich. Gleichgültig, welche Gefühle sie ihrem Mann entgegenbrachte, diese Menschen gehörten jetzt zu ihr, und sie würde in Zukunft mit ihnen leben. Sie konnte den Wunsch, von diesen Leuten gemocht zu werden, nicht unterdrücken. Plötzlich wurde sie sich wieder ihres heruntergekommenen Aufzugs und ihrer körperlichen Mängel schmerzlich bewußt. Sie biß sich auf die Lippe und flehte Gott in einem inbrünstigen, stummen Gebet an, ihr zu helfen und die Leute dazu zu bringen, sie zu mögen. Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich in den nächsten - entscheidenden - Minuten verhalten sollte. Die Dorfbewohner anlächeln? Nein, dachte sie, das wäre unter diesen Umständen unpassend. Aber sie wollte auch nicht zu reserviert erscheinen, weil man ihr das als Gefühlskälte oder Hochmut auslegen könnte. Sie war immerhin eine Schottin, und Schotten galten allgemein als ein kühles, stolzes Volk. Obwohl sie tatsächlich stolz war, eine Schottin zu sein, wollte sie auf gar keinen Fall bei diesen Leuten - ihren Leuten - den Eindruck erwecken, sie sei unnahbar.
Sie waren nur noch wenige Meter von den etwa vierhundert Dorfbewohnern entfernt, die sich am Straßenrand aufgereiht hatten, und Jenny entschied, daß es besser war, freundlich zu sein, statt als arrogant und abweisend zu gelten. Sie zauberte ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, glättete noch einmal die Falten in ihrem Kleid und setzte sich aufrecht und gerade in den Sattel.
Als sie an den Zuschauern vorbeiritten, war Jenny erstaunlich aufgeregt. Wenn in Schottland ein Lord, siegreich oder nicht, aus einer Schlacht heimkehrte, wurde er mit Jubelrufen und Begeisterung empfangen. Aber die Menschen hier waren still, wachsam und beunruhigt. In einigen Gesichtem erkannte man sogar Feindseligkeit, während die Mehrzahl beim Anblick des neuen Herrn furchtsam wirkten. Als Jenny das sah, fragte sie sich, warum sie vor ihrem ruhmreichen Helden Angst hatten -oder täuschte sie sich, weil sie selbst ängstlich und unsicher war?
Die Antwort auf diese Frage erhielt sie augenblicklich, als eine feindselige männliche Stimme das angespannte Schweigen brach: »Merrick-Schlampe!« In dem Bestreben, den berühmten neuen Herrn gewogen zu stimmen und ihm zu beweisen, daß sie seine Meinung über diese erzwungene Ehe teilten, nahm die Menge den Ruf auf. »Merrick-Schlampe«, brüllten sie ein ums andere Mal. »Schlampe! Merrick-Schlampe!« Alles geschah so schnell, daß Jenny keine Zeit hatte zu reagieren oder irgend etwas zu empfinden. Neben ihnen grabschte ein etwa neunjähriger Junge nach einem Dreckklumpen und warf ihn. Jenny wurde an der Wange getroffen.
Ihr Angstschrei wurde von Royce erstickt - er warf sich nach vorn, um sie mit seinem Körper vor einem Angriff zu schützen, den er weder gesehen noch erwartet hatte. Arik, der nur flüchtig mitbekommen hatte, wie jemand den Arm erhob und etwas warf, was genauso gut ein Dolch hätte sein können, stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus, sprang aus dem Sattel und riß seine Streitaxt aus dem Gürtel, während er sich gleichzeitig auf den Jungen stürzte. In dem Irrglauben, der Junge habe Royce als Ziel angepeilt, packte er ihn am Haarschopf, hob ihn ein Stück hoch, und während der Junge zappelte und kreischte, holte der blonde Hüne mit der Streitaxt aus ...
Jenny handelte, ohne nachzudenken. Mit einer aus Entsetzen geborenen Stärke warf sie sich zurück und stieß Royce von sich. Sie übertönte jeden Befehl, den er geben wollte, mit ihrem eigenen gellenden »Nein! Nein, nicht!«
Arik verharrte mitten in der Bewegung und hielt die Axt hoch über dem Kopf, als er Royce - nicht Jennifer - fragend ansah. Jenny tat es ihm gleich, und ein Blick in das wutverzerrte Gesicht ihres Mannes genügte ihr, um zu wissen, welche Anweisung er Arik geben würde. »Nein!« kreischte sie hysterisch und klammerte sich an Royces Arm. Er riß den Kopf zu ihr herum, und wenn das überhaupt möglich war, dann war sein Gesichtsausdruck jetzt noch mörderischer als zuvor. Jenny sah, daß ein Muskel an seinem angespannten Kiefer zuckte, und in ihrer Verzweiflung schrie sie: »Willst du ein Kind töten lassen, nur weil es deine eigenen Worte wiederholt und dir zeigt, daß es dir in allem recht gibt, auch wenn es deine Gefühle mir gegenüber betrifft? Lieber Gott, der
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