Im Koma
Mir erzählt ja niemand was. Ich werd bloß aufs Internat verfrachtet, und wenn ich nach Hause kommen will, stelle ich fest, dass meine Eltern das beschissene Haus direkt vor meiner Nase verkauft und mir kein Wort davon gesagt haben. Wer macht so was? Wer zieht um, ohne seinen Kindern Bescheid zu sagen? Oh, ich vergaß«, schrie sie. »Dir haben sie es ja erzählt.«
»Ich bin sicher, dir haben sie es auch erzählt.«
»Wo zum Teufel sind sie überhaupt?«
»Sie haben ein kleineres Haus gekauft, das näher am Golfplatz liegt. Wobei kleiner relativ zu verstehen ist«, fügte Casey hinzu, als sie an die 1000-Quadratmeter-Prachtvilla in der Old Gulph Road dachte, die ihre Eltern bezogen hatten. »Es tut mir wirklich leid, Drew. Ich dachte, du wüsstest es.«
»Na, da würde ich beim nächsten Mal einfach nicht von ausgehen. Ich könnte wirklich einen Schluck Wein gebrauchen.«
»Nein.«
»Komm schon, Casey«, drängte Janine und gab Drew die Flasche.
Drew trank einen großen Schluck, bevor Casey noch etwas einwenden konnte. »Okay, das reicht, Drew«, sagte sie schließlich, als zu befürchten stand, dass Drew die Flasche in einem Zug leerte.
»Kannst du dir das vorstellen?«, fragte Drew Janine, streifte ihre Turnschuhe ab, zog die Knie an die Brust und begann, sich vor und zurück zu wiegen. »Würden deine Eltern so was machen?«
»Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sieben war«, antwortete Janine ruhig. »Mein Vater hat keinen Cent Unterhalt bezahlt, obwohl er einen guten Job und ein festes
Einkommen hatte. Meine Mutter hat ihn immer wieder verklagt, aber es hat nichts genutzt. Dann hat er noch einmal geheiratet und eine neue Familie gegründet, das Gericht hat ihm seine Unterhaltsschuld erlassen und den Betrag der monatlichen Unterstützung reduziert, die er natürlich auch nie gezahlt hat. Deshalb musste meine Mutter drei Jobs gleichzeitig machen, sodass ich sie kaum gesehen habe, bis sie zu krank zum Arbeiten wurde und drei Monate vor ihrem siebenundvierzigsten Geburtstag an Krebs gestorben ist.« Janine trank den restlichen Wein, der noch in der Flasche war.
»Das hast du mir nie erzählt«, sagte Casey später zu ihr, als Drew friedlich auf dem Sofa schnarchte. »Das muss sehr schwer für dich gewesen sein.«
»Wie heißt es doch so schön? Das Leben ist wie eine Hühnerleiter: kurz und beschissen.« Janine lächelte strahlend. »Und am Ende wartet dann der Tod.«
»Und was passiert jetzt?«, fragte einer der Ärzte, als Janine sich buchstäblich in Luft auflöste und nur ihr Lächeln zurückließ wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland.
»Nun, sie scheint ganz prima alleine zu atmen«, sagte Dr. Ein mit hörbarer Erleichterung, als Casey in die Gegenwart zurückkehrte, »wir werden wohl einfach abwarten müssen.« Casey stellte sich vor, wie der Arzt den Kopf schüttelte. »Über alles Weitere können wir nur spekulieren.«
KAPITEL 10
»... Wunder, dass sie nicht gestorben ist«, sagte eine Stimme. »Wenn ich wetten würde, hätte ich ihre Chancen auf unter zehn Prozent geschätzt.«
»Sie ist unbedingt eine Kämpferin«, bestätigte eine andere Stimme.
Casey kämpfte gegen die Panik an, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie in völliger Dunkelheit aufwachte. Ob sie sich je daran gewöhnen würde? Oder an die fremden Stimmen, die beim Aufwachen über ihren Kopf hinwegredeten und ihren Zustand und ihr Aussehen einschätzten, als wäre sie ein unbelebter Gegenstand, wie ein Objekt auf einem Stillleben. Dekorativ, anspruchslos, mit einem fest zugewiesenen Platz, wo man es betrachten und regelmäßig abstauben konnte.
Nur dass irgendjemand versucht hatte, sie komplett auszuradieren.
»Als man mich zu der ersten Diagnose hinzugezogen hat, habe ich einen Blick auf sie geworfen und gefragt: >Was gibt es da zu diagnostizieren? Die Frau ist nicht zu retten<«, fuhr die erste Stimme fort. »Das Ausmaß ihrer Verletzung war einfach grauenvoll.«
»Niemand hat gedacht, dass sie die erste Nacht überstehen würde«, sagte die zweite Stimme. Warren, erkannte Casey, als seine Stimme in ihr Unterbewusstsein vordrang.
»Aber sie hat alle verblüfft«, sagte der erste Mann, und in seiner tiefen Stimme schwang Bewunderung mit. »Jetzt atmet sie wieder aus eigener Kraft...«
»Trotzdem...«, unterbrach Warren ihn und rang offensichtlich mit seinen Gedanken. »Ihre Lebensqualität...« Er räusperte sich. »Ich weiß, dass sie auf keinen Fall den Rest ihres Lebens in diesem Zustand
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