Im Koma
Ball zu schlagen, der offen auf einem Haufen Blätter lag. Sie fragte sich, ob der Ball schon die ganze Zeit dort gelegen hatte, und ging seinen Drive im Geist noch einmal durch. »Verdammt«, hörte sie ihn sagen, als sein Ball außer Sichtweite flog. »Das ist ungerecht.« Der Ball war offensichtlich doch weniger tief in den Blättern versunken, als sie zunächst angenommen hatte. Außerdem sah sie ihn jetzt auch aus einem anderen Winkel. »Kümmere dich um dein eigenes Spiel«, murmelte sie vor sich hin, als sie zum Schlag ausholte und den Ball komplett verfehlte, was ihr schon ewig lange nicht mehr passiert war.
Sie beendete ihre Runde mit 85 Schlägen, was respektabel war, aber immer noch vier Schläge über ihrem Handicap lag. Warren kam auf 92, obwohl es nach Caseys stiller Rechnung eigentlich 93 Schläge gewesen waren. (Sie hatte nicht bewusst mitgezählt, sie tat es automatisch.) Vielleicht hatte sie sich auch geirrt. Oder es war ein unbeabsichtigtes Versehen seinerseits. Sie hatten sich die ganze Zeit angeregt unterhalten, sodass man leicht einen Schlag hätte vergessen können. Vielleicht wollte er sie auch nur beeindrucken.
»Er schummelt beim Golf«, hörte sie ihre Schwester sagen.
»Sei still, Drew«, murmelte Casey.
»Verzeihung«, sagte Warren. »Hast du etwas gesagt?«
»Ich sagte, weißt du, was Winston Churchill über Golf gesagt hat?«
»Nein, was denn?«
Casey lächelte über das alte Bonmot, das Warren bestimmt schon ein Dutzend Mal gehört hatte, was er jedoch aus Höflichkeit verschwieg. »Golf ist ein Spiel, bei dem man versucht, einen zu großen Ball in ein zu kleines Loch zu bringen, und das mit einer Ausrüstung, die für ein solches Vorhaben völlig ungeeignet ist.«
»Scheiße«, fluchte Drew noch einmal und riss Casey aus ihren Träumereien. »Das kommt davon, wenn man sich selber die Nägel machen muss. Normalerweise macht Amy das für mich
- erinnerst du dich, das Mädchen mit dem Diamantstecker in der Zunge? Sie arbeitet in dem Laden in der Pine Street! Sie ist auf jeden Fall mit Abstand die beste Maniküre der Stadt, und ich gehe schon seit Ewigkeiten einmal die Woche zu ihr. Das heißt natürlich, bis du hier im Krankenhaus gelandet bist. Jetzt kann ich es mir nicht mehr leisten, fünfundzwanzig Dollar die Woche, mickrige fünfundzwanzig Dollar«, wiederholte Drew zur Betonung, »für präsentable Hände auszugeben, wenn ich nicht will, dass meine Tochter hungert, was, wenn du mich fragst, auch nicht so schrecklich wäre, weil die kleine Lola langsam ein bisschen fett wird. Ja, ich weiß, sie ist erst fünf und hat später noch genug Zeit, sich Sorgen über Diäten und den ganzen Kram zu machen, aber ein Mädchen kann nicht vorsichtig genug sein.« Drew schnaubte verächtlich. »Aber wem sage ich das! Wenn du im Parkhaus besser aufgepasst hättest, war uns der ganze Schlamassel erspart geblieben.«
»Angela Campbell, kommen Sie nach vorn! Sie sind die nächste Kandidatin bei Der Preis ist heiß.«
Drew schätzte weiter mit der jüngsten glücklichen Kandidatin um die Wette, bis Casey sich nach ein paar Minuten ausschaltete. Sie war erschöpft von dem stetigen Strom endlosen Geplappers, der gegen ihre Ohren drängte wie ein heißes Bügeleisen, seit die Ärzte verkündet hatten, dass sie hören könne und es ihrer Genesung daher förderlich sei, wenn man möglichst viel mit ihr sprach. Seither redeten alle in dem gut gemeinten, wenngleich überflüssigen Bemühen, ihr Gehirn zu stimulieren, ununterbrochen auf sie ein. Es ging gleich morgens mit der
Ankunft der Ärzte und Schwestern los, dann mit Freunden und Verwandten weiter, und setzte sich bis in die Nacht fort, wenn die Pfleger ihr Zimmer wischten. Und wenn sie nicht auf sie ewjredeten, lasen sie ihr etwas vor: die Krankenschwestern beglückten sie mit den Schlagzeilen der Morgenzeitungen, ihre Nichte trug voller Stolz die Geschichte von Rotkäppchen vor; und Janine setzte ihren quälenden Marsch durch die Straßen des 19. Jahrhunderts in Middlemarch fort.
Ganz zu schweigen von dem Fernseher und seiner Parade von schwachsinnigen Talkshows, hysterischen Gameshows und sexfixierten Nachmittagssoaps. Dann kamen Montel, Dr. Phil, Oprah und Ellen, gefolgt von den Forensikern von C.S.I., den triebgesteuerten Ärzten von Grey's Anatomy oder den bizarren Anwälten von Boston Legal, die alle um ihre volle, ungeteilte Aufmerksamkeit buhlten.
Und dann war da natürlich noch Warren.
Er kam jeden Tag, küsste immer ihre Stirn
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