Im Kreis der Sünder - Kriminalroman aus dem Ruhrgebiet
vergessen, noch einmal die Akte durchzugehen. Weil die Patientin ihn eine ganze Weile nicht mehr aufgesucht hatte, war es umso wichtiger, sich vor der Sitzung erneut über ihre Probleme zu informieren. Mit einem Blick auf seine Uhr stellte Mark Milton fest, dass ihm für diese wichtige Aufgabe genau siebzehn Minuten blieben.
Auch nachdem er die Akte überflogen hatte und er sich wieder an etliche Details erinnern konnte, gab ihm der Fall jede Menge Rätsel auf. Vieles deutete darauf hin, dass die Patientin als Kind missbraucht worden war, gleichzeitig sprach einiges dagegen. Zwischendurch war er sogar in Versuchung geraten, Sina Gabrillani an eine Kollegin weiterzuvermitteln.
Milton starrte auf das Datum der letzten Sitzung. Über ein halbes Jahr war das her. Danach war sie plötzlich nicht mehr erschienen, hatte nicht einmal den letzten vereinbarten Termin abgesagt. Warum habe ich sie jetzt nicht an eine Kollegin verwiesen, fragte er sich unwillkürlich. Neugier? Angst, sich die eigene Unzulänglichkeit einzugestehen? Er wusste es nicht. Aus einem undefinierbaren Grund war er davor zurückgeschreckt. Womöglich würde sich der vermeintliche Fehler jedoch ins Gegenteil verkeh ren, konnte eine verlorene Seele oder sogar Leben retten. Wer sagte ihm denn, dass ein anderer Therapeut für die Patientin überhaupt von Vorteil war?
Ehe er eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte, schellte es an der Tür. Eilig erhob sich Mark Milton und ließ Sina Gabrillani herein. Soweit er das beurteilen konnte, hatte sie einige Kilos abgenommen, obwohl sie ihm immer schon sehr mager erschienen war. Nachdem sie ihre dunkelblaue Sommerjacke ausgezogen hatte, bestätigte sich der anfängliche Verdacht. Ihre spitzen Schultern stachen unter dem engen T-Shirt hervor, die Wangen waren auffallend eingefallen, ihre ausdruckvollen blauen Augen wanderten unstet umher. Offensichtlich hatte sich ihr Zustand in der Zwischenzeit drastisch verschlechtert.
»Schön, Sie wiederzusehen«, erklärte Mark Milton und führte Sina Gabrillani durch das Vorzimmer in den geräumigen Behandlungsraum. Sie setzte sich in einen der beiden Sessel und sah sich um. »Das Gemälde dort drüben an der Wand ist neu«, bemerkte sie.
»Ein Geschenk meines Freundes«, erwiderte Milton, obwohl er lieber so früh wie möglich mit der Sitzung begonnen hätte. Manchmal jedoch stellte sich ein kleiner Umweg später als nützlicher Baustein heraus. »Die Gemälde hinter Ihnen hat er auch gemalt«, fuhr er fort.
»Das neue Bild gefällt mir sehr. Das viele Weiß drückt Unschuld aus, oder nicht?«
»So unschuldig wie das Leben sein sollte?«, fragte Mark Milton, während er ihre Reaktion genau beobachtete. Sina Gabrillani war unwillkürlich zusammengezuckt. Ihre Augenlider flatterten nervös. Offensichtlich hatte er damit einen wunden Punkt getroffen. Eilig notierte er etwas auf dem Notizblock, der auf seinen Knien lag. Ihre heftige Reaktion erstaunte ihn allerdings nicht sonderlich.
»Unschuld, ja, Unschuld.« Auch ihre Stimmlage hatte sich verändert. Sie versuchte zu lachen, was aber mehr nach einem Aufschrei klang.
»Genau das ist Ihr Thema, nicht wahr?«
Statt ihm zu antworten, starrte sie schweigend auf das Bild an der gegenüberliegenden Wand.
»Warum wollten Sie unbedingt einen Termin nach so langer Zeit? «, fragte Mark Milton, als ihn das Schweigen zu stören begann. Zum Glück stellte sich dieses Problem nicht bei allen Patienten.
»Mein Vater ist sehr, sehr krank«, erwiderte sie, als er schon nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte.
»Dann ist es völlig normal, dass Sie sich Sorgen machen.«
»Normal!« Sie lachte erneut dieses unpassende Lachen.
»Ihre Sorgen sind durchaus verständlich«, erklärte Mark Milton, als Sina Gabrillani wieder zu lange schwieg. Dabei wusste er nicht recht, ob seine Worte auf sie beruhigend wirkten oder eher wie eine Provokation.
»Wahrscheinlich wird er bald sterben«, flüsterte sie kaum hörbar. »Jedenfalls sagen das meine Geschwister.«
Sie hatte einen Bruder und eine Schwester, das hatte er vorher noch in ihrer Karteikarte gelesen. Die Mutter war kurz nach Sinas elftem Geburtstag gestorben. Wieder geheiratet hatte der Vater nicht.
»Was bereitet Ihnen angesichts des nahen Todes Ihres Vaters am meisten Sorgen?«, fragte Mark Milton sichtlich angespannt. Seltsamerweise erhoffte er sich von der Beantwortung dieser Frage einschneidende Erkenntnisse.
»Meine Geschwister drängen mich, ihn im Krankenhaus zu
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