Im Kühlfach nebenan
tot war.
|55| drei
Ich schlenderte, wenn man das gemütliche Dahinfliegen so nennen mag, durch die Straßen des Ortsteils, der im Schatten des
Klosters lag. Das ist bildlich gesprochen, denn so viel Schatten wirft das alte Kloster natürlich nicht. Immerhin besteht
Mariental aus vier Straßen, die auf das Kloster zulaufen, und drei Querstraßen, die die anderen miteinander verbinden. Martin,
der alte Stadtplansammler, hätte bestimmt seine Freude an der Interpretation dieser städtebaulichen Details. Mir, der es gewohnt
war, Örtlichkeiten nach dem Fluchtwegepotenzial zu beurteilen, gefiel die Gegend auch. Hätte ich hier ein Auto klauen müssen,
wäre der Abgang kein Problem gewesen. Eine der vier Straßen vom Kloster weg und dann auf die Umgehungsstraße, auf die sie
alle münden. Und tschüss, leichter geht’s nicht. Aber ich war ja nicht hier, um noble Karren auszuspähen, daher rief ich mich
zur Ordnung. Was mir schwerfiel, denn heiße Schlitten gab es hier eine Menge.
Überhaupt stank die Gegend nach Wohlstand. So etwas sieht jemand, der seinen Lebensunterhalt mit der Beschaffung von Luxusartikeln
verdient hat, auf den ersten Blick. Die Häuser waren alt, aber nicht gammel-alt, sondern nobel-alt. Also teuer saniert. Die
Fassaden vom Dreck der |56| Jahrhunderte befreit, die Dächer glänzend neu gedeckt, die Fenster nicht nur doppelt oder dreifach verglast in schicken Regenwaldholzrahmen,
sondern oft auch mit den kleinen, unauffälligen Drähten versehen, die zu einem Kästchen neben der Haustür laufen, dessen Schlüssel
man besser nicht am Schlüsselbrett nebenan hängen lässt.
Viele Häuser waren von vornherein groß und protzig – oder repräsentativ, wie Martin vermutlich sagen würde. Ich schwirrte
auch mal durch einige Wohnzimmer, um den Eindruck von einem teuren Pflaster zu bestätigen. Die Sitzgelegenheiten sahen aus,
als habe der Designer gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen, bevor er seinen Bleistift zur Hand nahm. Nicht bequem, aber
künstlerisch wertvoll. Die Fernseher hingen an der Wand und waren flach wie frisch gebügelte Hunderter. Die Kücheneinrichtungen
einschließlich Espressobohnenmühleundkaffeevorglühvollautomaten mit Milchschäumer und Morgenlatte hatten vermutlich mehr Geld
gekostet, als ich selbst in guten Jahren verdiente. Kurz: Hier wohnte Kohle.
Mein Schmankerl des sonnigen Nachmittags aber war ein Streifzug durch die Garagen und Abstellplätze, die sich langsam füllten,
je mehr Banken, Börsen oder sonstige Schnöselbuden Feierabend machten. Es gab alles, was in Serie gebaut wird und auf deutschen
Autobahnen rasen darf. Die Muttis, die ihre Brut vom Reiten oder aus der Musikschule abholten, standen auf Geländewagen in
Wohnwagengröße, über deren Dachreling die Damen trotz achteinhalb Zentimeter Fersensockel nicht blicken konnten. Die Papis
liebten es flacher, schneller und teurer. Es gab kein Modell, das ich nicht hätte knacken können.
Ich war der Beste gewesen. Und jetzt war ich tot. Das Leben kann manchmal ganz schön scheiße sein.
|57| Mariental ist nicht der Nabel der Welt, daher hatte ich nicht vor, den Abend oder die Nacht hier zu verbringen. Ich überlegte
gerade, ob ich wieder in die Notaufnahme eines Krankenhauses oder besser gleich ins Kino gehen sollte, als ich vermehrten
Fußgängerverkehr bemerkte. Zweibeiner, die pro Haushalt zwei bis drei Kraftfahrzeuge besitzen, deren Anschaffungskosten jeweils
über dreißigtausend Euro lagen, gehen selten zu Fuß. Daher war mir die Sache verdächtig. Ich beobachtete die Prozession, der
sich immer mehr Menschen anschlossen. Sie gingen Richtung Kloster. Ach so, da war vermutlich eine Andacht, eine Messe, ein
Gottesdienst, oder wie auch immer das heißen mochte, was die Nonnen zur abendlichen Erbauung der Nachbarschaft anboten. Ich
wollte mich schon abwenden und sehen, welchen Film das Kino zu bieten hatte, als ich stutzte. Die Fußgänger nahmen nicht den
Weg zur Kirche, sondern strebten auf eins der Häuser direkt am Klosterplatz zu. Ein Eckhaus in Trapezform, dessen schmale
Seite dem Kirchenhügel zugewandt war. Damit waren die Gröbendahls, denn dieser Name stand auf dem Klingelschild, direkte Nachbarn
des Anbaus, in dem das Obdachlosenasyl untergebracht gewesen war. In Spuckweite befand sich die Mauer, auf der die Penner
hockten, solange die Klosterpforte dicht war. Und diese Leute bekamen Besuch von ungefähr dreißig Nachbarinnen und
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