Im Kühlfach nebenan
gute Wohnlage lamentierte.
»Das Interview war nicht mit Ihnen abgesprochen?«, fragte Martin, der schnell lesen und auch fix denken konnte. Er hatte die
Sachlage als Erster durchschaut. »Nein.« Die Haarsträhnendressur war auf ein normales Maß zurückgegangen. »Und das Interview
hat viele entrüstete Zuschriften ausgelöst.« Sie blätterte einige Seiten weiter. »Hier, lesen Sie.« Sieben Leserbriefe bezogen
sich auf das Interview mit dem »arroganten Mistkerl«, der eine »ekelhafte Menschenverachtung« an den Tag lege und »von Nächstenliebe
so viel verstehe wie ein Hund vom Fliegen.« In dem Stil ging es weiter. Nur ein Brief unterstützte die Forderung nach einem
Verbot des Asyls, und der war unterzeichnet |69| vom Kölner Ortsvorsitzenden einer Partei namens Germania Voran.
»Können Sie sich vorstellen, dass Herr zum Berg die Brandstiftung begangen hat?«, fragte Martin. Susanne Gröbendahl überlegte.
Lange. Dann schüttelte sie den Kopf. »Er ist zwar ein egoistischer Scheißkerl, aber das traue ich ihm nicht zu.« Ich hatte
nicht den Eindruck, dass sie von ihrer eigenen Äußerung ganz überzeugt war.
Nachdem wir Frau Gröbendahl verlassen hatten, war Martin erschöpft und wollte nach Hause, und Marlene war erschüttert über
die Einstellung der Nachbarn zur Pennerhilfe des Klosters und wollte beten. Ich konnte beide überzeugen, wenigstens noch eine
halbe Stunde der Nachbesprechung zu widmen. Wir begaben uns ins Eiscafé, wo der Kellner mit der stark ölhaltigen Frisur erst
überrascht war, den seltsamen Gast von gestern wiederzusehen, und dann enttäuscht, dass dieser die hübsche blonde Frau nicht
mitgebracht hatte. Er sah mehrmals sehnsüchtig zur Tür, bevor er sich dazu durchrang, an Martins Tisch nach den Wünschen zu
fragen.
»Einen Cappuccino, bitte.« »Sì, subito.« Wieder Überraschung, diesmal mehr der freudigen Art.
»Vielleicht hat das Eiscafé den Brand gelegt«, sagte Marlene. »Oder die Kleingärtner. Oder diese Partei Germania Voran.«
»Marlene«, entgegnete ich streng, »jetzt übertreibst du.«
»Sag ihm das«, forderte Marlene mich auf. »Du fällst von einem Extrem ins andere«, versuchte ich sie zu beschwichtigen. »Gestern
konntest du dir niemanden vorstellen …«
|70| »Sag es ihm«, keifte sie. Der Tonfall erinnerte mich an den langsam steigenden Hysteriepegel, den wir auch bei der süßen Suse
bereits erlebt hatten. Dass die Weiber aber auch immer gleich so überreagieren müssen.
»Marlene verdächtigt jetzt den Eiscafébesitzer, die Kleingärtner und Germania Voran«, leierte ich also herunter.
Martin griff sich an die Stirn. »Offenbar ist ja Nächstenliebe nicht gewollt«, giftete Marlene weiter. »Wir tun der ganzen
Menschheit etwas Gutes, indem wir den Armen und den Ausgestoßenen helfen, aber das erzeugt nicht etwa Dankbarkeit, sondern
Hass. Ich kann es nicht fassen, dass sich sogar eine Nachbarschaftsinitiative gegründet hat. Nur wenige Meter von unserer
geweihten Kirche entfernt. Diese Menschen sind Pharisäer.«
»Marlene …«
»Sag ihm das!«
»Marlene, dein heiliger Zorn ist vielleicht doch ein bisschen übertrieben, oder?«
»SAG IHM DAS!«
Ich tat ihr den Gefallen, damit sie aufhörte, mir die elektromagnetischen Wellen mit ihrem Gebrüll zu zerfransen. Aber ihre
Wut kühlte sich nicht ab. Stattdessen sandte jetzt auch Martin eindeutig genervte Signale.
Na super! So hatte ich mir das Ende meiner Einsamkeit nicht vorgestellt. Wochenlang war es mein sehnlichster Wunsch gewesen,
einen weiteren Ansprechpartner zu haben. Nicht nur auf Martin angewiesen zu sein. Kontakt zu einer weiteren Seele oder gar
einem anderen lebenden Menschen zu bekommen. Und dann wird mein Wunsch erfüllt, und ich rutsche von der Benzinspur ins Altölfass.
Links und rechts zwei erstklassige Neurotiker und ich mittendrin.
|71| »Ruhe«, brüllte ich daher in das mich umwabernde Gesabbel. Es wurde schlagartig still. »Marlene, warum sollten die Kleingärtner
etwas gegen euch haben?«
Marlenes Seelenfrieden war noch nicht ganz wiederhergestellt, aber immerhin keifte sie nicht mehr und konnte auch wieder einigermaßen
zusammenhängend und klar formulieren. »Die Kleingärtner haben dasselbe Problem wie die Nachbarn«, sagte sie mit zitternder
Stimme. »Manche Obdachlose verbringen warme Nächte lieber auf den Bänken in der Schrebergartenanlage als bei uns. Ein- oder
zweimal gab es Einbrüche in die Lauben, wo
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