Im Kühlfach nebenan
einer Meinung. Solange die Weiber Sexentzug
als Machtmittel einsetzten, würde es Nutten geben. Und da Sexentzug unter dem Vorwand der Moral oder der Religion oder aus
anderen abstrakten Gründen auch noch gesellschaftlich akzeptiert war, ja sogar als erstrebenswert galt, konnte die Prostitution
in eine rosige Zukunft blicken. Dieser Ansicht scheint sogar meine Lektorin zu sein, denn sie hat diesen Absatz nicht gestrichen.
Marlene seufzte. »Ich hätte es anders formuliert, aber im Grunde hast du recht. Prostitution ist für eine Gesellschaft wie
die unsrige unentbehrlich. Sogar nützlich, weil sie unter Umständen sexuelle Gewalt gegen Frauen verhindert. Daher ist eine
einseitige Ächtung der Frauen, nicht aber ihrer Kunden, völlig falsch. Beratung, Gesundheitsvorsorge und Stärkung der Selbstbestimmung
sind in diesem Gewerbe so schwer an die Frau zu bringen, weil diese sich nicht öffentlich zu ihrer Arbeit bekennen darf. |228| Daher kommen die meisten Probleme. Über die Arbeitsbedingungen von Krankenschwestern darf man öffentlich diskutieren und Verbesserungen
fordern, über die Arbeitsbedingungen von Prostituierten nicht. Es fehlt die öffentliche gesellschaftliche Kontrolle. Das fördert
Ausbeutung und Missbrauch.«
Hätte ich nicht gewusst, dass es Marlene ist, die zu mir spricht, hätte ich auf eine von diesen Kampfemanzen getippt, die
ihre lila Latzhosen längst gegen eine Munitionsweste eingetauscht haben und öffentlich fordern, dass Männer mit Eintritt in
die Pubertät einen Keuschheitskorb auf Kassenrezept angeschweißt kriegen, für dessen operative Entfernung sie die Einwilligung
ihrer Ehefrau, deren bester Freundin und der Schwiegermutter benötigen.
»Wenn die Situation der Prostituierten sich bessern soll, muss es eine gewerkschaftliche Vertretung, eine Registrierung gefährlicher
Kunden und ein Ausfallgeld ähnlich dem Krankengeld für den Bordellbetreiber geben, wenn eine Frau von einem Kunden mit einer
übertragbaren Krankheit angesteckt wurde.«
Gewerkschaftliche Vertretung. Geil. Dann heißt es demnächst auf der Titelseite der Politmagazine: Nutten bei ver.di fordern
Fünftagewoche. Das könnte zu Missverständnissen führen. Und Syphilis wird in den Katalog der Berufskrankheiten aufgenommen
wie Mehlstauballergie und Asbestlunge. Und wenn die Lehrerin ihre Erstklässler fragt, was die Eltern beruflich machen, sagt
die eine, ihr Papi sei Bankberater, und der andere, seine Mami sei Nutte. Und man kennt sich vielleicht sogar untereinander?
Ich kicherte albern.
Marlene seufzte. »Ja, die Diskussion ist schwer zu führen, besonders für uns, denn wir als Nonnenorden können diese Positionen
natürlich nicht öffentlich vertreten.« »Sonst würde der Papst euch eine Ladung Scheiterhaufenholz |229| und ein Streichholzbriefchen mit dem vatikanischen Wappen drauf schicken«, vermutete ich immer noch kichernd.
»Er würde uns aus der Kirche ausschließen«, sagte Marlene. »Das ist für einen Orden ungefähr dasselbe.«
Wir hatten unsere Schutzbefohlene während unserer Diskussion nicht aus den Augen gelassen. Birgit hatte mittlerweile das Foto
von ihrer Schwester weggesteckt und offensichtlich die Taktik geändert.
»Welchem Zuhälter ist in letzter Zeit ein Mädchen abhanden gekommen?«, fragte sie gerade. »Warum willst’n das wissn?« »Ich
suche den Typen, der in einer Beratungsstelle randaliert hat.«
»Biste von den Bullen?« »Nein, von der Beratungsstelle. Praktikantin. Wir haben kein Geld, um die Schäden zu beheben, die
Versicherung zahlt nicht, weil der Typ wegen eines kaputten Fensterriegels leicht einsteigen konnte, und die Bullen haben
bisher keine Klimmzüge gemacht, um uns zu helfen. Aber wenn wir den Schuldigen kriegen, muss er zahlen.«
Auf diese Weise erfuhr sie drei Namen und bekam jede Menge Zuspruch wie »Ey, super, dass du dich so einsetzt« oder ähnliches
Lob. Ich machte mir so meine Gedanken über die Selbstverständlichkeit, mit der Birgit log, aber Marlene erklärte mir, dass
dieser kreative Umgang mit der Wahrheit niemandem schade außer dem Schuldigen und daher in Ordnung sei. Ich musste mein Weltbild
von den heiligen Kuttenträgerinnen dramatisch überarbeiten. Mir wurde dabei auch klar, dass ein Verein, der auf nix als auf
Glauben gründet, auch nur dann zweitausend Jahre lang bestehen kann, wenn er sich einen gewissen Pragmatismus erhält. Also
doch alles gar nicht so verwunderlich. |230| Nur eine
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