Im Labyrinth der Abwehr
kindliche Psyche und Gedächtnis unter Lagerbedingungen weniger widerstandsfähig als bei Erwachsenen. Wenn deshalb ein Kind einer Fotografie ähnelt, seine Aussagen aber nicht mit den Angaben über seine Herkunft zusammenfallen, so sollte, man ihm diese Angaben einreden, damit im Augenblick der Übergabe bei den Eltern nicht sofort ein Zweifel entsteht."
Da er auf Johanns Gesicht ein gewisses Unbehagen zu bemerken glaubte, sagte der Berater streng:
„Ich halte es für notwendig, Sie daran zu erinnern, daß die an dieser Sache interessierten Personen über unbegrenzte Möglichkeiten verfügen, jeden zu beseitigen, der bei dem Vertrauen, wie ich es jetzt in Sie setze, eine Indiskretion begeht."
Er entnahm seiner Brieftasche ein leeres, unterschriebenes Formular und zeigte es Weiß:
„Wenn wir eine gemeinsame Sprache finden, so kommt in diese Ecke hier Ihr Foto. Der Rang eines Obersturmführers dürfte Ihnen sicher sein.“
Weiß stand auf:
„Ich danke Ihnen für das Vertrauen, Herr Reichsberater. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu Diensten zu stehen."
„Sie sind ein feiner Kerl, Herr Oberleutnant Weiß. Hauptmann Dietrich hat Sie völlig richtig eingeschätzt. Sie sind ein Mensch, der nicht mehr fragt, als er muß."
Die Baronin trat ins Zimmer. Ohne Rücksicht auf die Anwesenheit ihres zukünftigen Gatten sagte sie unwillig:
„Dieses Mädchen benimmt sich, als wenn sie mir mit ihrer Gegenwart eine Ehre erweist. Kaum, daß sie auf meine Fragen antwortet. Sitzt da und starrt immer auf einen Fleck. Ich habe ihr vorgeschlagen, das Gut anzuschauen, sie hat abgelehnt. Ich habe sie mit meiner Ahnentafel bekannt gemacht. Da hat sie frech erklärt, daß in Rußland nur Rassetierzüchter Wert auf einen Stammbaum legen. Hätte ich gewußt, daß meine Bemühungen vergeblich sind, so hätte ich nicht soviel Geduld mit dieser Russin gehabt."
„Die Abwehr wird Ihre Verdienste zu schätzen wissen."
„Was kann Ihre Abwehr schon für mich tun! Wenn man mir wenigstens ein anderes, einträglicheres Gut geben würde. Ich muß ja schließlich sehen, wo ich bleibe. Na, gehen Sie schon zu Ihrem Zögling. Sie ist im Gästezimmer."
Beim Geräusch der sich öffnenden Tür wandte das Mädchen ihr Gesicht Weiß zu, blickte aber merkwürdigerweise an ihm vorbei. Sie fragte:
„Nun?"
„Wie steht's?"
„Ach, Sie sind es." Sie sagte das, als ob sie ihn nur an der Stimme erkannt hätte.
Als sie die Treppe hinuntergingen, hielt sie sich krampfhaft am Geländer fest. Auf der Allee ging sie mit unsicherem Schritt, schaute nicht zu Boden und trat in die Pfützen, als wolle sie sich absichtlich die Beine bespritzen.
Als Weiß in einen Seitenweg abbog, ging das Mädchen fast mechanisch weiter geradeaus. Er trat zu ihr und bewegte heftig die Hand vor ihrem Gesicht. Er wußte, daß viele Häftlinge infolge des Hungers ihre Sehkraft verloren.
Das Mädchen sah Weiß offenbar nicht, aber sie fühlte wohl seinen aufmerksamen Blick. Sie drehte sich schnell um.
„Nina!" sagte Johann energisch, faßte sie bei den Schultern und zwang sie, sich zu ihm umzudrehen. „Nina, ich weiß alles über Sie!" Das Mädchen machte sich von ihm los und lief stolpernd davon. Weiß holte sie ein.
„Machen Sie keine Dummheiten", befahl er.
Er sprach mit ihr in ruhigem, sicherem Ton.
„Olga ließ sich zusammen mit dem Institut nach Swerdlowsk evakuieren. Sie sind Nina. Das einzige, was mich jetzt interessiert: Zu welchem Zweck haben Sie sich für Olga ausgegeben? Es wäre gut, wenn Sie die Wahrheit sagten. Davon hängt sehr viel für Sie ab."
„Und wenn ich nichts sage?"
„Wie Sie wollen. In dem Fall können Sie die bleiben, für die Sie sich ausgeben."
„Und wer bin ich tatsächlich?"
„Nach meiner Information eine deutsche Agentin. Eine Vaterlandsverräterin. Also?"
„Hören Sie", sagte sie leise, „Sie wollen mir einreden, daß Sie nicht so ein Deutscher wie alle anderen sind."
„Einmal angenommen ..."
„Vielleicht sind Sie ... Na, ja, ich habe sowieso nichts zu verlieren."
„Eben. Wenn die Schulleitung erfährt, daß Sie fast nichts mehr sehen, schickt man Sie zurück ins Lager. Wozu braucht man schließlich Blinde."
Das Mädchen gab seine abwehrende Haltung auf.
Ja, ihr Vater hatte tatsächlich Olga, die Tochter des denunzierten Obersten, aufgenommen. Dann, als der Krieg begann, kam Nina als Sanitäterin in die Einheit, in der ihr Vater Kommissar war. Sie geriet in Gefangenschaft. Irgendein Verräter hat sie bei den
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