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Im Labyrinth der Fugge

Im Labyrinth der Fugge

Titel: Im Labyrinth der Fugge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Abe
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Silberstift hatte sie die Frau mit dem Fransentuch skizziert, Wolkenschlieren und Kreuze für den angekündigten Tod, das Turamichele und ein schwarzes Wesen zu seinen Füßen, ein Mühlrad und Heinrich. Ihn hatte sie mehrmals gezeichnet, bis es ihr einigermaßen gelungen war. Sie skizzierte immer alles auf ein Blatt, ineinander verschlungen und verwoben. Von Weitem sah es dann wie ein Muster aus. So wie die Ereignisse des Tages auch im Kopf verbunden waren. Es machte nichts, dass ihr die Blätter durcheinander gerieten, sie mischte sie sogar, tat immer leere Seiten oben auf den Stapel. Sie brauchte keine Beschriftung und kein Datum, wenn sie das Blatt zur Hand nahm, fiel ihr alles wieder ein. Keines ihrer Geschwister oder gar ihre Mutter konnte so mit den Zeichnungen etwas anfangen.
     
    Mit dem Licht in der Hand trat sie auf den Flur. Die Dielen knarrten unter ihren Füßen. Die helle Mondsichel brach sich in den runden Bleiverglasungen des Flurfensters viele Male. Hier ein Stück Mond und da eines. Sie löste den Haken und öffnete das Fenster zum Innenhof einen Spaltbreit. Kühle Nachtluft strömte ihr entgegen. Sie sah zum Pavillon mit der grünen Zwiebelkuppel in der Mitte des Gartens. Die Neptunfigur darin trug die Gesichtszüge ihres Großvaters Raymund Fugger, der lange vor ihrer Geburt gestorben war. Mit seinem breiten Bart und seinem lockigen Haar war er auf mehreren Gemälden im Haus dargestellt. Das Grundstück an der Kleesattlergasse war sein ganzer Stolz gewesen. Den Garten hatte er im Stil der Medici von Florenz anlegen lassen. All dies zusammen mit seiner umfangreichen Musikinstrumentensammlung vererbte er seinem Sohn Georg, weil der am meisten Neigung zur Kunst zeigte und am wenigsten zur Politik. Als nackte Steinfigur wachte Großvater Raymund auf ewig, in der Linken einen großen Dreizack und in der rechten Hand einen Karpfen, über seinen Lustgarten. Ob er wirklich so athletisch gebaut gewesen war, bezweifelte Anna. Konnte der Neptun ihre Gedanken lesen und drohte ihr? Etwas schlich hinter der Figur hervor. Ein Tier? Anna erstarrte. War ein Pferd ausgekommen? Eher ein Einhorn. Nein, es trug zwei Hörner und ging auf zwei Beinen. Ein Faun? Es sprang über die Buchshecken der Labyrinthe bis zum viereckigen Becken, beugte sich darüber, betrachtete sich im Wasser, rückte mit Klauenhänden an seinen Hörnern. Sein Kopf hob sich. Sah es zu ihr hinauf? Anna duckte sich. Sie blies den Kienspan aus. Sollte sie ihre Eltern wecken? Oder zu den Zimmern ihrer beiden größeren Schwestern gehen, die ein Stockwerk höher schliefen? Sie wusste, dass ihre Mutter mit Wolle in den Ohren schlief, damit ihr von Marias Weinen, bis die träge Amme sie aus der Wiege hob, nicht wieder selbst die Milch kam. Ihr Vater verbrachte die Nächte der Wochenbettzeit, wie immer, im Turm.
    Teufel, Dämonen und jetzt ein Faun. Sie hatte schlecht geträumt und war noch nicht ganz wach. Vermutlich war es nur einer der Dienstboten, der irgendein totes Tier trug. In dem großen Herrenhaus gab es immer jemanden, der auch nach Mitternacht arbeitete. Sollte sie zu ihrem Vater gehen? Wahrscheinlich schnarchte er mit einem Destillierkolben in der Hand vor einem halbleeren Fass Wein.
    »Wenn man nach dem Elixier fürs ewige Leben sucht, Anna, kann man ruhig ein Nickerchen machen«, hatte er ihr einmal erklärt. Wieso wollte er ewig leben, wo er doch jetzt schon möglichst einen weiten Bogen um seine Frau und die Belange der Familie machte? Wie ihre Mutter wollte Anna nie sein. Sie würde ihre Kinder nicht wie Ungeziefer aus ihrer Reichweite kehren, damit sie wieder Luft bekam. Hatte der Tod des ersten Kindes ihre Mutter so verbittert?
    Anna zwang sich wieder, aus dem Fensterspalt zu sehen. Die Mondsichel spiegelte sich im Wasserbecken, auch der übrige Innenhof, vom Wehrturm bis zu den Arkaden, schien friedlich. Da war etwas auf dem Dach. Eine Gruppe Tauben wahrscheinlich. Anna schloss das Fenster und eilte über den Teppich mit dem eingewebten Lilienwappen der Familie die Stiegen hinunter, an den Musikinstrumenten, den Gemälden von Großvater Raymund, Großmutter Katharina und den Kinderbildnissen ihrer Oheime vorbei, in die große Küche.
    Zahlreiche Schatten von Tiegeln und Kesseln malte die Glut an die Küchenwände. Hinter der Herdstelle schlief Isabella, die Magd, in einem Truhenbett. Sie hatte nachts dafür zu Sorgen, dass das Feuer in der Küche nicht erlosch.
    »Schellebelle«, rief Anna leise. So hatte sie sie schon als Kind

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