Im Labyrinth der Fugge
Kloster lag inmitten von flachen Wiesen und Wäldern. Der Kirchturm war von Baugerüsten umgeben. Vielleicht sah sie gerade zum letzten Mal eine Wiese und einen Baum, dachte sie.
Genauso schwer, wie sie Anna in die Kutsche gebracht hatten, würden sie sie wieder herausbringen. Sie weigerte sich auszusteigen, krallte sich an den Verschlägen fest, strampelte und biss, obwohl sie merkte, dass ihre Fingerknöchel brannten und die Haut auf den Fingerkuppen aufgeplatzt war. Auch fühlte sie sich insgesamt sehr müde, doch sie trotzte weiter.
»Anna«, flüsterte Virginia hinter ihr. »Lass es sein.«
Das erstaunte Anna so, dass sie für einen Augenblick nachgab und von den Nonnen gepackt wurde. Sie sah noch, wie Virginia Mechthild hinaustrug und die Kutsche mit ihren kleineren Brüdern weiterfuhr. Die Nonnen zerrten Anna über die Schwelle, die Türflügel schlossen sich und wurden von innen verriegelt. Auf kalten Steinplatten legten sie sie ab, wie eine Katze, die man aus einem Sack geschüttelt hatte. Virginia und Mechthild folgten den Nonnen. Anna verstand nichts mehr. Sie kauerte sich zusammen, über ihr ein Kreuzgewölbe, vor ihr ein weitschweifiger Gang, viele Male wiederholte sich das Gewölbe. Es roch nach Weihrauch und Kuttenmuff und nach …, nach … Anna wurde es übel. Malz und Hopfen, ja, sie kannte den Geruch von den Destillaten ihres Vaters. Vater, sie spuckte aus. Hatte er das hier für sie ausgesucht, weil es hier nach Bier stank?
Anna sah auf und blickte in ein von schwarzem Schleier umrahmtes Gesicht. Fahrig streichelte die Nonne ein kleines Hündchen, das sie halb in ihren Kuttenärmel geschoben hatte. Das Hündchen hatte dieselben kleinen Kohlenaugen wie die Betschwester, auch die gleichen Hängebacken, die auf Anna herabzufallen drohten.
»Steh auf!«, befahl die Nonne.
Anna rührte sich nicht. Das Hündchen gähnte, ein Spuckefaden troff auf Anna herab.
Sie starrte auf den Kuttensaum, erspähte darunter bestickte Pantoffeln. Die Nonne drehte sich um, ging den Kreuzgang entlang und bog um die Ecke. Anna hörte eine Tür zuschlagen. Ihr war eisig kalt, sie spürte ihre Zehen und Hände kaum noch. Irgendwann hatte sie einmal gelesen, dass Erfrieren nicht der schlimmste Tod sei, es war eine Geschichte von einem Bergsteiger gewesen, aber wie das Buch ausgesehen hatte, wusste Anna nicht mehr. Würde sie jemals wieder ein Buch in der Hand halten? Gab es hier Bücher? Wann würde das Denken einfrieren? Sie presste die Augen zusammen, zog die Beine so nah wie möglich an den Leib und hauchte sich in die schmerzenden Fingerspitzen. Schlafen und sich etwas Schönes vorstellen, das Paradies …
Sie dachte an die Bibliothek ihres Vaters, wie sie an ihrem letzten Geburtstag durch den Wehrgang geschlendert war, durch die bunten Glasscherben sah, hin und her eilte und nach den Scherben für ein vollständiges Bild suchte. Die scherbenschluckende Schellebelle drängte sich in die Erinnerung, nein, schnell weg … Hin zu dem aufgemalten Gockel im Glas, den sie schon einmal im Wehrgang entdeckt hatte, aber was gab es noch? Da war ein gehörntes Tier, eine Kuh, ein Stier, ein Ziegenbock? Hier die Hufe, dort die Hornspitzen.
Jemand riss sie am Ärmel hoch, stellte sie mit Schwung auf die Beine. Sie stand inmitten einer Gruppe Nonnen.
»Demut und Gehorsam lernst du als Erstes«, sagte die Langbackige. Sie hatte die Hände in den Kuttenärmeln verborgen, ob da das Hündchen wieder irgendwo hockte? Anna schwankte, hatte aber keine Gelegenheit zu fallen, denn mehrere Hände hielten sie wie in einem Schraubstock aufrecht.
Statt des Hündchens zog die Obernonne ein silbernes Kreuz aus dem Ärmel, an dem ein winziger Jesus hing. »Küss ihn.«
Anna presste die Lippen zusammen. Wieso sollte sie dieses schwarzverkrustete Etwas küssen? Es roch nach Hund und wurde an Wer-weiß-was-für-einer-Stelle in der Kutte aufbewahrt. Doch viele hatten es offenbar getan, denn die winzige Jesusbrust glänzte blank wie abgeschleckt.
»Knie nieder.«
Eine der Schwestern schlug ihr in die Kniekehle, eine zweite zog ihr die Beine nach hinten.
Sie kniete. Wieder hielt ihr die Obernonne das Kreuz vor die Nase. Anna senkte den Blick und biss die Zähne aufeinander.
»Dann in den Karzer mit dir. Wenn du Gehorsam geübt hast, bekommst du Wasser, und wenn du Gehorsam verinnerlicht hast, bekommst du eine Suppe, und wenn du gehorsam bist, bekommst du ein Stück Brot. Erst dann darfst du an unserer Gemeinschaft teilnehmen.« Anna
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