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Im Land der Feuerblume: Roman

Im Land der Feuerblume: Roman

Titel: Im Land der Feuerblume: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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schrie auf, als sie den Himmel sah. In den letzten Tagen hatten sie ihn hinter den Baumkronen nur erahnen können, nun war der Blick auf die wolkenverhangene Weite frei.
    »Seht nur!«, rief sie.
    Niemand hörte auf sie, nach wie vor stritten sie, vor allem Fritz und Taddäus, doch als Lukas an ihre Seite trat, den Himmel erblickte und in ihr Rufen einstimmte, fuhren sie alle herum.
    »Dort hinten hört der Wald auf«, schrie Poldi.
    So schnell stürzten alle in die gleiche Richtung, dass die meisten ausglitten und auf dem Boden liegen blieben. Barbara lachte, Fritz fluchte, die Mädchen weinten, und Jule erklärte, dass der Waldboden wenigstens so weich wäre, dass man darin nur ersticken, sich nicht aber das Genick brechen könne.
    Nur Elisa ging entschlossen weiter, ohne zu stolpern, ohne zu rutschen. Immer dünner standen die Bäume; fast hatte sie das Gefühl, als würden sie vor ihr zurückweichen, um sie willkommen zu heißen. Und dann lag er vor ihr, der riesige See, nicht grau wie der Himmel, sondern silbrig glänzend, glatt und unberührt, als hätte nie ein Boot ihn durchfurcht und sich kein menschliches Antlitz je darin gespiegelt. Abermals schien die Welt geschrumpft, die Laute erloschen, das Woher und Wohin zählten nicht; nur sie gab es und diesen weiten See.
    »Wie schön«, entfuhr es ihr, »wie schön.«
    Es dauerte lange, bis sie das wildwuchernde Gestrüpp überwunden und sich am Ufer des Sees versammelt hatten. Auch dort versanken sie kniehoch in Gräsern, Büschen und Schlingpflanzen. An jedem freien Fleckchen Erde wuchs die Nalca-Pflanze, von der Annelie behauptet hatte, sie würde wie Rhabarber schmecken.
    Kleine Wellen kräuselten den eben noch glatten See; aus dem Dunst, der über dem Wasser hing, löste sich ein Schwan – das Gefieder schneeweiß, der Hals schwarz gefärbt. Elisa lauschte und hörte in der Ferne, vom Nebel gedämpft, das Schreien und Zwitschern anderer Vögel, ähnlich traurig und sehnsuchtsvoll wie das der Möwen, die einst ihr Schiff umkreist hatten.
    Lange blieben es die einzigen Laute. Niemand sagte etwas; jeder starrte auf den See, der so viel Ruhe verhieß und so viel Wildheit, so viel Frieden und so viel Plackerei. Sie sahen das gegenüberliegende Ufer nicht, nur die vielen Riesenbäume, die mal in dichten Reihen, mal vereinzelt das Wasser säumten und tiefe Schatten darauf warfen.
    Elisa trat noch etwas näher an das Ufer heran. Sie spürte Feuchtigkeit durch ihre Schuhe sickern und bückte sich, um ihre Hände im dunklen Wasser zu waschen. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sich der Nebel gelichtet. Der Himmel war zwar noch wolkenbedeckt, aber die Luft klärte sich, und in der Ferne sah sie, wie sich – wie ein Trugbild unter vielen Schleiern – eine Bergkette erhob. Nicht schroffe und spitze Gipfel reihten sich aneinander, wie sie es von der Küste her kannte, sondern weich geschwungene, im runden Konus der Vulkane mündende. Waren sie tatsächlich weiß von Schnee? Oder war es noch der Dunst, der sie umhüllte und ihnen dieses reine, unbefleckte Gewand verlieh?
    Elisa wusste es nicht, fühlte nur tiefe Ehrfurcht vor etwas, das so viel älter, so viel größer, so viel erhabener schien als die kleinen Menschenkinder, die in diese wilde Welt gestolpert waren.
    Sie richtete sich auf, und hinter ihr setzte Gemurmel ein, sehr zaghaft nur, sehr vorsichtig, als fühlten auch die anderen, dass man sich dieser Stille beugen muss.
    Am lautesten war Christines Stimme, als sie plötzlich rief: »Lieber Himmel, seht nur!«
    Die Berge, vor allem der größte von ihnen – der Vulkan Osorno, wie Elisa später erfuhr –, hatten sich nur kurz und unscharf gezeigt und sich alsbald wieder hinter Wolken versteckt, aber über dem See riss kurz der Himmel auf. Ein Sonnenstrahl fiel dünn aufs Wasser und färbte ein winziges Fleckchen leuchtend blau. Doch es war nicht das, worauf Christine deutete, sondern auf eine Rauchsäule, die nicht weit von ihnen gen Himmel stieg, bekundend, dass das Land um den See nicht ganz so unberührt, wild und verlassen war, wie der erste Eindruck es verheißen hatte.
    »Vielleicht ist das die Siedlung unserer Landsleute!«, meinte Barbara.
    Fritz zog zweifelnd die Stirn in Falten. »Es ist tatsächlich Rauch, aber es schaut nur so aus, als stiege er unmittelbar vor uns hoch. Bis wir uns durch das Gestrüpp gekämpft haben und dorthin gelangen, mag es einen halben Tag dauern.«
    Taddäus Glöckners Gedanken hielten sich nicht lange damit auf,

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