Im Land der Feuerblume: Roman
selbst Richard ein Einsehen haben.«
»Richard geht das nichts an!«, rief Annelie scharf. Sie atmete tief durch, fuhr dann gemäßigter fort: »Es ist meine Entscheidung – nicht seine.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Jules Lippen. »Und wie sieht sie aus, deine Entscheidung?«
Annelie setzte sich wieder zu ihr und rückte ganz dicht an sie heran. Sie wusste, dass Jule es nicht leiden konnte, wenn man ihr zu nahe kam, aber sie wollte leise sprechen.
»Du hast doch gesagt, dass es eine Möglichkeit gibt … es zu verhindern … Du … du …«
Sie geriet ins Stottern.
»Ja«, sagt Jule, »ja, das habe ich gesagt. Ich habe sie dir doch schon gezeigt … diese Portiokappe … Du musst sie nur rechtzeitig einführen, bevor du und Richard …«
Unscharf konnte sich Annelie an dieses sonderliche Ding erinnern, das Jule ihr einst vor die Nase gehalten hatte. Tiefes Unbehagen war damals in ihr hochgestiegen, doch nun gelang es diesem nicht, an ihrer Entschlossenheit zu kratzen.
»Wirst du mir helfen? Wirst du mir zeigen, wie man damit umgeht? Und du darfst nie jemandem davon erzählen!«
Jule beugte sich nach unten. Immer noch hielt sie das hölzerne Stäbchen in der Hand und begann wieder, Striche in den Boden zu ritzen. Diesmal nahmen sie deutlich die Gestalt eines Hauses an.
»Ja«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Ja, ich werde dir helfen. Du weißt doch, dass ich auf deiner Seite stehe.«
Annelie hatte Jule zurückgelassen, war zum Seeufer getreten und hatte sich auf einem trockenen Stückchen Wiese niedergelassen. Sie war nur selten hier. Elisa, das wusste sie, genoss diesen Anblick. Ihr selbst war die Landschaft nie wichtig gewesen, in der sie lebte, ganz gleich ob von Wiesen oder Bergen umgeben, von Seen oder Vulkanen. Wann immer sie sich glückliche Stunden ausmalte, sah sie kein blau-grünlich schimmerndes Wasser oder weiße Gipfel vor sich, sondern eine reichgedeckte Tafel, auf der nicht nur köstliche, sondern auch ausgefallene, von ihr allein erfundene Speisen angerichtet waren.
Und Kinder, dachte sie, irgendwie hatten auch Kinder zu dieser Vorstellung gehört, Kinder, die um den Tisch liefen und spielten und denen sie dann und wann eine Leckerei zustecken konnte.
Sie erwartete, dass der Gedanke daran sie traurig machte, doch stattdessen fühlte sie nur Erleichterung. Eine Last fiel von ihr ab, nun, da sie mit Jule gesprochen hatte, und erst jetzt ging ihr auf, wie groß diese Last überhaupt gewesen war. Nicht weit von ihr schwamm einer jener Schwäne mit weißem Gefieder und schwarzem Hals über das Wasser. Er schien die Oberfläche kaum zu berühren, denn sie blieb glatt. Auf seinem Rücken trug er, wie alle Mütter seiner Art, zwei Junge. Annelie blickte ihm lange nach, und immer noch stieg keine Traurigkeit hoch. Sie dachte nicht daran, dass sie niemals ihr eigenes Kind auf dem Rücken tragen würde, nur, dass sich das gewiss schwer und drückend anfühlen müsste.
Plötzlich wurde der See unruhig. Das Wasser kräuselte sich, Wellen schwappten an das Ufer, und aus dem Dunst erstiegen die Konturen eines Boots. Annelie richtete sich überrascht auf.
»Gott zum Gruße!«, rief ihr ein Mann zu, der an den Rudern saß. Annelie kannte fast alle Siedler, die sich in der Nähe des Sees niedergelassen hatten, dieser Mann aber war ihr fremd. Sein Dialekt klang schwäbisch – ein wenig wie der der Steiners.
»Wir haben nichts zu tauschen«, rief sie schnell. Das letzte Mal, als Fremde auftauchten, waren diese aus Valdivia gekommen und hatten gehofft, von ihnen Weizen zu bekommen.
»Die Kartoffelernte war zwar reichlich, aber …«
»Lebt hier eine Frau von Graberg?«, unterbrach der Mann sie schroff.
Annelie nickte verwirrt.
»Ich bringe nichts zu essen, sondern einen Brief.«
Das Boot hatte nun das Ufer erreicht, und der Fremde sprang ins kniehohe Wasser, um den letzten Abstand zu ihr zu überbrücken. Annelie wich unwillkürlich zurück – stets von vertrauten Gesichtern umgeben, machte ihr der Anblick des Fremden Angst. Doch er schien nichts davon zu bemerken, sondern kramte umständlich in seiner Brusttasche. »Ich komme aus Valdivia!«
»Wenn Sie wollen, dann bringe ich Ihnen einen Krug Apfelwein«, murmelte sie. »Sie müssen eine lange Reise hinter sich haben.«
Sie klang nicht besonders einladend; der Mann nahm ihr Angebot auch nicht an, sondern streckte ihr nur rasch den Brief entgegen.
»Muss weiter«, schloss er und sprang zurück in das Boot, ehe er erklärt
Weitere Kostenlose Bücher