Im Land der Feuerblume: Roman
ein wenig Seelenfrieden schenkte, sondern weil er Greta beschützen musste. Vor allem: weil er sie beschützen konnte.
Er zog sie fest an sich. So vielen Menschen hatte er Unglück gebracht, auch Elisa, vor allem ihr, so Schlimmes, so Unerträgliches, dass sie ihn am liebsten nie wieder sehen wollte – nur Greta, Greta hatte er nie Leid zugefügt. Ihr half er, ihr war er eine Stütze.
»Hab keine Sorge«, sagte er schnell. »Niemand wird es je erfahren, was Viktor … was Viktor dir angetan hat. Wir werden eine Lösung finden.«
Wie jedes Jahr im Frühling waren die Wege schlammig. Elisa musste achtgeben, nicht auszurutschen, und als sie über ein loses Holzbrett stolperte, dachte sie wehmütig an Lukas. Nach dem letzten Winter hatte er hier stundenlang gehämmert, um die Wege auszubessern. Gab es auch keine ausreichende Straße um den See – obwohl Franz Geisse deren Bau nun schon seit Jahren ankündigte –, zumindest ihre Parzellen sollten sicher verbunden sein.
Die Strecke, die sie nun nahm, war sie selten gegangen, eigentlich die ganzen letzten Jahre nicht. Als sie hinter einer Ecke das Haus der Mielhahn-Kinder erblickte, befiel Elisa deshalb kurz ein schlechtes Gewissen. Früher hatte sie es auf den unnahbaren, feindseligen Viktor schieben können, sich nicht um die Geschwister zu kümmern. Doch ohne Zweifel war es sträflich nachlässig, in all den Wochen seit seinem unerwarteten Tod kein einziges Mal nach seiner Schwester gesehen zu haben.
Auch die meisten anderen Frauen hatten das nicht getan. Christl hatte bei der Nachricht von Viktors Tod sogar hämisch gelacht und behauptet, dass Greta nun völlig verlottern würde, woraufhin Christine sie zwar für das Lachen gemaßregelt hatte, nicht aber für die Worte. Jeder war insgeheim überzeugt, dass Greta sich nicht allein durchbringen konnte – und jeder gab vor, von den eigenen Sorgen und Lasten zu sehr zermürbt zu sein, um ihr beizustehen.
Nur Cornelius, so wusste man, war in der schweren Zeit bei ihr, und als Elisa davon gehört hatte, hatte sie statt der Eifersucht, die früher seine Fürsorge manchmal ausgelöst hatte, vor allem Erleichterung gespürt. Wenn Cornelius für Greta sorgte, musste es sonst niemand tun – auch sie nicht. Als sie heute Morgen den Beschluss gefasst hatte, hierherzukommen, trieb sie darum weniger die Sorge um Greta, sondern die Suche nach ihm.
Annelie hatte recht. Sie musste mit ihm sprechen. Sie musste ihm sagen, dass sie ein Kind erwartete. Sie wusste nicht, was dann geschehen würde und was sie sich erhoffen sollte, denn immer noch wucherten so viel Schmerz und Schuld und Leere in ihrem Herzen. Aber allein der Gedanke daran, das Geheimnis nicht länger nur mit der hilflosen Annelie teilen zu müssen, nahm ihr unendlich viel Gewicht von den Schultern.
Das Gras roch durchdringend. Inmitten alter bräunlicher Halme brachen hellgrüne Triebe durch. Es knackte unter ihren Füßen – das einzige Geräusch, denn ansonsten herrschte Totenstille. Wenn nicht das Mielhahn-Haus vor ihr aufgeragt wäre, so hätte sie das Gefühl gehabt, ganz allein auf dieser Welt zu sein. Für einen kurzen Moment schloss Elisa die Augen, erinnerte sich an die einstige Wildnis, die sie am See vorgefunden hatten – als der Wald noch nicht gerodet, der Boden noch nicht von den Wurzeln befreit war und als die Siedler kaum menschliche Spuren hinterlassen hatten.
Tief atmete sie die frische Luft ein. Auch damals war es ihr gelungen, förmlich aus dem Nichts ein Leben aufzubauen. Vielleicht schaffte sie das noch einmal – weiterzuleben und weiterzukämpfen, sich nicht von ihrer Schuld zerfressen zu lassen, das Kind, das in ihrem Leib wuchs, nicht als Schande zu sehen, sondern als Hoffnung und als Zeichen, dass auf den Tod das Leben folgt. Plötzlich musste sie an die Geschichte denken, die sie Ricardo erzählt hatte, ehe er starb – die Geschichte von Feuerblume, die so viel zu durchleiden hatte und so viele Kämpfe auszustehen, ehe sie mit ihrem Liebsten vereint war.
Als sie die Augen öffnete, zuckte sie zusammen. Wie aus dem Nichts stand Greta vor ihr. Hätte nicht das niedergedrückte Gras ihre Schritte verraten, so hätte Elisa glauben können, sie sei wie ein Geist vor ihr erstanden.
So lautlos wie sie erschienen war, so lautlos verhielt sie sich weiterhin. Sie sagte nichts, atmete flach, nur ihr Mund verzog sich zu einem eigentümlichen Lächeln, das Elisa unwillkürlich frösteln ließ.
Krampfhaft versuchte sie, es zu
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