Im Land der Feuerblume: Roman
Greifen nah vor ihnen, sondern auch die ferne Andenkette. Der dunkle See glänzte in der Sonne türkis und spiegelte das durchdringende Grün der Wälder, die binnen weniger Tage ihr Frühlingskleid trugen. Die eben noch wie erstarrte Welt schien förmlich aufzubrechen angesichts der Pflänzchen und Gräser und Blumen, die an das Sonnenlicht drängten.
Für Cornelius war es stets mehr Pflicht als Lust gewesen, den Acker zu pflügen und zu säen; nie hatte er die tiefe Freude empfunden, die früher in Elisas Gesicht geschrieben stand, wenn sie stolz auf ihr Tagwerk blickte. Nun jedoch verstand er, warum sie aus der Arbeit Kraft zu schöpfen schien. Auch ihm schenkte sie in diesen Tagen viel: Ablenkung von allen trüben Gedanken und vor allem die Überzeugung, dass das Leben immer irgendwie weiterging und kein Schmerz, kein Hader sich dem steten Wechsel aus Werden und Vergehen widersetzen kann.
Lange hatte er sich überlegt, wie er wieder Frieden mit Elisa schließen konnte. Doch nach wie vor wusste er nicht, was er in dieser Sache tun sollte – nur die Natur gab ihm entschieden vor, was zu tun war. Er schuftete vom Morgengrauen bis zum Abend, schlief wie betäubt und stürzte sich am nächsten Tag abermals entschlossen in die Arbeit, dankbar, dass hier kein Scheitern, kein Fehlen, kein Schuldigwerden drohte – nur jeden Tag ein neuer kleiner Erfolg winkte: ein hoher Holzstoß, ein neues Dach, eine saubere Stube, ein vom Unkraut befreites Beet.
Dass er nach dem Tod ihres Bruders bei Greta lebte, hinterfragte niemand – wahrscheinlich, weil die meisten in der allgemeinen Geschäftigkeit keine Zeit hatten, und er selbst gewöhnte sich schnell daran, insgeheim dankbar, dass Greta so still und unaufdringlich war. Aus kargen Zutaten bereitete sie ihm regelmäßig ein Mahl, betrachtete ihn ernsthaft, wenn er es aß, und behauptete, sie wäre selbst schon satt. Er wusste meist nicht, was er mit ihr reden sollte, aber er war froh, nicht allein zu sein, und wahrscheinlich war sie das auch, obwohl sie ihn nie daran teilhaben ließ, was in ihrem Kopf vorging – zumindest nicht bis zu diesem Abend.
Er kehrte mit erdigen Händen vom Feld zurück, doch ihn erwarteten weder Herdfeuer noch der Duft nach Eintopf, sondern lediglich eine kalte, verschmutzte Stube. Greta zeigte nicht ihr sanftes, trauriges Lächeln, das ihn rührte, sondern war völlig in sich zusammengesunken.
Entsetzt stürzte er auf sie zu, glaubte zunächst, sie sei ohnmächtig geworden, doch als er sie hochzog, stand sie sofort auf.
»Was ist passiert, Greta?«, fragte er.
Ihr Gesicht war totenblass. »Viktor …«, murmelte sie.
Er glaubte sie zu verstehen. »Du vermisst ihn«, meinte er. »Du trauerst um ihn.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.«
Dann brach es aus ihr hervor, schnell und aufgeregt, so wie ein kleines Kind spricht, das nicht weiß, womit es anfangen soll und wie viel es überhaupt verraten darf. Niemand solle es wissen, rief sie, niemand es je erfahren. Er müsse unbedingt verheimlichen, was sie ihm nun sagen würde. Sie würde es auch ihm verschweigen – wenn sie es denn könnte. Aber sie konnte es leider nicht.
»Was hast du denn, Greta?«
Sie legte ihre Hände auf ihren Leib, der flach und dürr wie immer war. »Ich kriege ein Kind!«, stieß sie aus.
Cornelius starrte sie an. Nein, dachte er, nein, das ist unmöglich – und er dachte das nicht, weil der Gedanke, dass Viktor der eigenen Schwester Gewalt angetan hatte, so ungeheuerlich war, sondern weil Greta ihm selbst noch als Kind erschien, viel zu dünn, viel zu schwach, viel zu zart, um mit einem schwanger zu gehen und es zu gebären.
»Ich überlebe das nicht!«, rief sie.
Erst als sie es wieder und wieder sagte, begriff er, dass sie nicht die Schwangerschaft meinte, sondern die Schande. Sie brach zusammen. Ihr Kopf schlug hart gegen die Wand.
Nie hatte er sich so hilflos in ihrer Gegenwart gefühlt. Er griff nach ihren Händen.
»Steh auf!« Er zog sie hoch und dann an sich. Ihr Körper war kalt und so leicht, dass er ihn kaum spürte. Wie hatte sich Viktor nur an ihr vergehen können? Wie ausnutzen, dass er der so viel Stärkere gewesen war?
»Du verachtest mich doch nicht?«, fragte sie bang.
»Es war doch nicht deine Schuld. Viktor …«
Er brach ab. Jetzt wusste er, warum er hatte weitermachen können – nicht nur wegen der Macht des Frühlings, der Neuanfang verhieß, nicht nur wegen der Arbeit, die er sich aufbürdete und die ihm
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