Im Land der Feuerblume: Roman
ungewohnt hart und scharf.
Elisa ahnte, dass sie kein weiteres Wort mehr sagen sollte, aber sie sprudelten einfach aus ihr heraus.
»Cornelius ist ein junger, gesunder Mann, und ausgerechnet er soll in Chile nichts taugen? Aber mit einem Neugeborenen und seiner schwächlichen Mutter werden wir die harte Anfangszeit ganz mühelos überstehen, ja? Wer von uns beiden hat sich da den falschen Gefährten erwählt?«
Sie hörte das Klatschen, ehe sie den Schlag fühlte. Ein brennender Schmerz breitete sich aus, ihre Wange glühte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater ihr jemals ins Gesicht geschlagen hatte, und er schien darüber nicht minder entsetzt. Fast verwundert blickte er auf seine Hand, deren Abdrücke sich rot auf ihrer Wange abzeichneten.
Elisa spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen, wollte jedoch nicht, dass ihr Vater sie weinen sah – oder gar Annelie.
Sie drehte sich um und stürmte hinaus. Der Boden wankte noch stärker als vorhin, durch die Ritzen pfiff der Wind. Schneidende Kälte umfasste sie.
»Elisa!«, rief Richard ihr nach. »Elisa, bleib hier! Niemand darf die Kajüte verlassen! Komm zurück, ich bitte dich!«
Trotz seines Rufens machte er keine Anstalten, ihr zu folgen und sie, notfalls mit Gewalt, zurückzuholen. So lief sie weiter und immer weiter, als hätte sie ihn nicht gehört.
Annelie knetete unruhig ihre Hände. Die erzwungene Untätigkeit seit Beginn der Reise war schwer zu ertragen, doch heute hatte sie das Gefühl, regelrecht daran zu ersticken. Sie war nicht gewohnt, nichts zu tun. Seit Kindesbeinen an hatte es stets Arbeit gegeben, in der Küche, im Stall, auf dem Feld, und selbst an den langen Winterabenden hatte sie genäht, gesponnen und gewoben, bis ihre Augen tränten. Sie liebte es zu kochen, alles andere hingegen war ihr oft mühselig, und sie hatte manchmal davon geträumt, einmal ruhig sitzen zu dürfen, so lange zu schlafen, wie sie wollte, und nicht ständig aufzuspringen, um zu schuften. Nun, da sie seit Monaten in der Koje lag, genoss sie das Ruhen mitnichten, sondern fühlte sich jeden Tag noch müder und elender. Dass in ihrem Leib ein Kind heranwuchs, schenkte weder Freude noch Kraft, sondern schien beides regelrecht aus ihr herauszusaugen.
»Bitte, Richard …«, setzte sie an. »Sei nicht so hart mit ihr!«
Seit über einer Stunde ging er nun unruhig auf und ab. »Du solltest nach ihr suchen!«, forderte sie ihn auf. »Dann kannst du dich mit ihr aussprechen.«
Ihre Finger taten weh, so fest rieb sie sie aneinander. Weiß und spitz traten die Knochen hervor.
»Sie hat die Kajüte einfach verlassen, obwohl sie wusste, dass sie das nicht darf! Ich laufe ihr nicht nach! Sie muss von selbst zurückkommen!«
Der Ausdruck seines Gesichts war eher verwirrt als ärgerlich. Sie kannte diesen Ausdruck gut. Früher hatte sie Richard von Graberg stets nur aus der Ferne gesehen – sie selbst war noch ein kleines Kind gewesen, sein Hof noch nicht verarmt, und alle hatten mit ehrfurchtsvoll gesenkter Stimme über ihn gesprochen. Nur ihre Schwester hatte immer ein wenig neidisch geklungen und schließlich, als das Gut verkommen war, sehr schadenfroh: »Jahrelang haben sie die Nase hoch getragen«, hatte sie gehöhnt, »und jetzt sind sie auch nichts Besseres als gewöhnliche Bauersleute.«
Annelie selbst schmeckte nichts von dieser Schadenfreude, nur Mitleid. Mochte Richard von Graberg auch verarmt sein – vornehm wirkten er und die Seinen noch immer. Ihr eigener Vater schrie und fluchte ständig und schlug fortwährend irgendeines seiner Kinder. Keinen einzigen ruhigen Winkel gab es im ganzen Haus, obwohl sie sich insgeheim so danach sehnte. Die von Grabergs hingegen – nicht nur Richard, sondern auch seine verstorbene Frau Elisabeth – sprachen bedächtig, schritten nach wie vor hoheitsvoll und langsam zum sonntäglichen Gottesdienst und schenkten Annelie die Ahnung eines besseren, weil stilleren und friedlicheren Lebens.
Annelie setzte sich ächzend auf. In ihrem Leib grummelte es, Galle stieg ihr bitter die Kehle hoch.
»Bleib liegen!«, rief Richard. »Du musst dich schonen!« Er klang besorgt, aber er trat nicht näher, um ihre Hand zu halten.
»Bitte«, flehte sie. »Mein Magen ist ganz flau. Hol mir doch ein Stück Brot.«
Sie hatte keinen Hunger, aber ihr fiel kein besserer Vorwand ein, um ihn fortzuschicken und allein zu sein. Nur so konnte sie ihren Plan umsetzen – einen Plan, den er niemals gutgeheißen
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