Im Land der Feuerblume: Roman
für Jakob Steiner tun konnte. Eine Weile hatten sie sich alle nicht zu rühren gewagt, sondern waren überzeugt gewesen, er wäre tot. Gewiss konnte niemand überleben, der vom Ast einer mächtigen Araukarie getroffen worden war. Doch dann, als sie wieder die Fassung gewonnen und mit Hacken, Sägen und Fußtritten das Gewirr an Ästen und Blättern, Nadeln und Zapfen beseitigt hatten, hatten sie gesehen, dass sich seine Brust noch hob und senkte.
»Wir müssen ihn befreien!«, erklärte Lukas. »Los! Ziehen wir ihn hervor!«
»Nein!«, widersprach Fritz. »Wir lassen ihn so liegen. Womöglich brechen wir ihm sämtliche Knochen, wenn wir ihn falsch anfassen. Jemand muss ihn zuvor untersuchen.«
»Und wo ist der Arzt, der das tun soll?«, fragte Lukas.
Schließlich hatten sie ihn liegen lassen, zwar sämtliche Nadeln, nicht aber den größten der Äste, der ihn einklemmte, beiseitegeschafft. Elisa wischte mit dem Tuch über Jakob Steiners Stirn; es wurde nass von seinem kalten Schweiß.
Jakob hatte immer schon alt ausgesehen, aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, auf einen Greis zu blicken. Nicht nur runzelig war die Haut, sondern eingefallen, als wäre das Fleisch darunter einfach verschwunden und nichts anderes von ihm geblieben als ein Totenkopf.
»Was nun?«, fragte Lukas.
Fritz schüttelte den Kopf. »Wir müssen warten … warten auf …«
Und in diesem Augenblick kamen sie. Poldi, den sie zu den Frauen geschickt hatten und der ihnen nun den Weg wies: Christine, Jule und Annelie.
Christine löste sich von den anderen und rannte auf ihren Mann zu. »Lieber Himmel! Wie geht es ihm? Was habt ihr nur getan? Wie konnte er so leichtsinnig sein, in den Wald zu gehen?«
Elisa hörte nicht zu, als Fritz erklärend auf sie einredete. Sie starrte auf Jule und hielt, ohne es zu merken, den Atem an. Würde Jule sich mit ihren kundigen Händen dazu herablassen, den Mann jener Frau zu untersuchen, die ihr nichts als Feindseligkeit und Verachtung entgegengebracht hatte? Und noch entscheidender war: Würde Christine von ihr Hilfe annehmen?
Plötzlich schaltete sich Annelie ein.
Sie trat zu Christine, packte sie vorsichtig an den Schultern und führte sie zu dem gefällten Stamm. Sanft drückte sie sie nieder, raunte ihr etwas ins Ohr – und Christine wehrte sich nicht.
Dann wandte sich Annelie an Jule und suchte ihren Blick: »Kannst du ihm helfen?«
Stumm blieb Christine sitzen. Abschätzig musterte Jule zuerst sie, dann Jakob.
»Ein Wunder, dass er noch lebt«, knurrte sie. Kurz blieb sie starr stehen, und Elisa befürchtete schon, sie würde die Sache als verloren betrachten, weil es sich nicht lohnte oder weil sie Christine den Gefallen nicht tun wollte.
Doch dann bückte sich Jule nach dem Verletzten, betastete fachkundig seine Glieder, vor allem die Schulter.
»Hier sind immer noch Teile des Astes!«, befahl sie knapp. »Schafft sie weg!«
Alle drei Söhne Jakob Steiners stürzten gleichzeitig hinzu und überboten sich, der jeweils Schnellere zu sein, der die Reste des Ungetüms vom Vater wälzte. Poldi, der faule Poldi, ächzte und schwitzte, als er sich gegen das schwere Holz stemmte. Bei alldem stützte Elisa immer noch den bleichen Kopf des Verletzten, und Jule hielt seine Schulter.
Nachdem er endlich gänzlich frei lag und die von der schroffen Rinde zerfetzte Kleidung ebenso offenbar wurde wie die aufgeschürfte Haut darunter, entrang sich ihm ein Stöhnen. So schwach war es, dass Elisa kurz meinte, sie habe sich geirrt. Sie beugte sich über seinen Mund, und da kam es wieder, diesmal lauter, und auch sein Atem, eben noch so flach, als hätte er bereits ausgesetzt, wurde etwas kräftiger.
Christine fuhr auf: »Jakob!«
Er öffnete die Augen; noch mehr kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn.
»Ich spüre nichts.« Unendlich langsam presste er die Worte hervor. »Ich spüre meine Beine nicht.«
Jule betastete seinen Körper. Mehrmals schlug sie mit der Handkante unterhalb seiner Knie auf die Beine, doch es kam keine Reaktion. Dann konzentrierte sie sich erneut auf die Schulter. Als sie seinen Arm hob, hing er so leblos von seinem Körper weg, als hätte man bei einer Marionette alle Fäden durchschnitten.
»Die Schulter ist ausgerenkt«, stellte sie schließlich fest, um nach einer längeren Pause ins angespannte Schweigen zu verkünden: »Zumindest das kann ich wieder in Ordnung bringen.«
Knapp gab sie Anweisungen. Ein Stück reißfesten Stoff brauchte sie. Und man sollte ein
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