Im Land der Feuerblume: Roman
noch nicht beseitigt waren, schien niemandem als unheilvolles Zeichen, sondern als Beweis, dass es hier zumindest jede Menge Arbeit gab.
Diese Arbeit würde auch er sich nun suchen, hatte Cornelius beschlossen, nachdem der Onkel keinerlei Bereitschaft zeigte, zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Nahezu überall, wo man helfende Hände brauchte, war er hingegangen und hatte seine Dienste angeboten; und nahezu überall wurde er angestarrt, weil er zu schmächtig schien und weil sich herausstellte, dass er weder Bauer war noch ein Handwerk gelernt hatte. Er kam gar nicht erst dazu, zu beweisen, dass ein starker Wille fehlende Kräfte und Übung wettmachen konnte, sondern wurde sofort wieder weggeschickt. Einer der Zimmerleute war immerhin freundlich genug, ihm einen Rat mit auf den Weg zu geben: Er solle sich doch an Carlos Anwandter wenden; dieser wäre so etwas wie ein Wortführer der Einwanderer. Aus Kalau stammend und dort für einige Jahre gar zum Bürgermeister aufgestiegen, besaß Carlos Anwandter mittlerweile eine eigene Apotheke sowie eine Brauerei in Valdivia. Im Jahr 1848 war er als Mitglied des Preußischen Landtages in der Frankfurter Paulskirche dabei gewesen, wo im Mai die erste denkwürdige Nationalversammlung tagte. Das spätere Scheitern der Revolution hatte ihn derart geschmerzt, dass er in Kalau keine Zukunft mehr sah, sondern entschied, die Freiheit – für ihn das erstrebenswerteste Gut eines jeden Bürgers – in Chile zu suchen.
»Ich war auch dabei – damals in Frankfurt«, erklärte Cornelius, als er von ihm empfangen wurde. Das war gelogen, denn nur Matthias war dorthin gereist. Später hatte er ihm allerdings so viel darüber erzählt, dass Cornelius alles über das Ereignis zu wissen glaubte.
Carlos Anwandter, der eigentlich Karl hieß, aber sich in dem Augenblick, in dem er chilenischen Boden betreten hatte, nur mehr mit spanischem Vornamen anreden ließ, gab sich beeindruckt.
»So sehen Sie nach der Revolution in Deutschland auch keinen Platz mehr zu leben?«
»Ich bin ein aufrechter Demokrat. Und ich suche hier Freiheit«, erklärte Cornelius.
Die Wahrheit war, dass er in diesem Augenblick keine Freiheit suchte, sondern nur eine Möglichkeit zu überleben. Carlos Anwandter bohrte nicht weiter nach und vermittelte ihm Arbeit beim Straßenbau. Diese war hart und schlecht bezahlt, aber immerhin konnten sie sich nun zwei Räume mieten – im oberen Stockwerk eines Hauses, das einer gewissen Rosaria gehörte, von der Cornelius nicht viel mehr wusste, als dass sie Witwe und geldgierig war.
Eben kam er dort an und öffnete quietschend die Tür – oder vielmehr das Holzbrett, das man als solche verwendete. Rosaria behauptete, ihr Haus gehörte zu den ältesten in Valdivia und hätte auch das Erdbeben überstanden. Was sie voller Stolz verkündete, erfüllte Cornelius mit der Furcht, dass irgendwann einmal sämtliche Wände über sie zusammenbrechen würden. Als er die windschiefe Treppe hochstieg, knirschen die Stufen unter seinen Füßen. Er hatte den ersten Stock noch nicht erreicht, als üble Gerüche ihm entgegenschwappten.
Er seufzte, beschleunigte seinen Schritt – und wusste doch, dass er zu spät kam.
Nicht schon wieder!, schimpfte er innerlich.
Er wappnete sich gegen den Anblick, der ihn erwartete, und war dennoch entsetzt, in welchem Zustand er seinen Onkel vorfand.
Seine Wut erlosch, machte Ohnmacht Platz – und Überdruss. Rosaria war eben damit beschäftigt, mit fettem Grinsen die Münzen einzusammeln, die auf dem Tisch lagen. Auch als sie Cornelius erblickte, beeilte sie sich nicht. »Rechtmäßig gewonnen!«, verkündete sie stolz.
Cornelius sah, wie immer mehr Geld in ihren feisten Händen verschwand – Geld, für das er gearbeitet hatte wie nie zuvor in seinem Leben. Geld, das sie so dringend brauchten, wollten sie diesem Rattenloch irgendwann einmal entkommen.
»Ach, Onkel …«, seufzte er.
Pastor Zacharias war bereits eingeschlafen. Sein Kopf war auf die Tischplatte gesunken, lag direkt neben der leeren Branntweinflasche. Sein Mund stand offen, sämiger Speichel tropfte daraus – nicht nur auf die Tischplatte, sondern auch auf sein Hemd.
Cornelius war im Türrahmen stehen geblieben. »Wie konnten Sie nur?«, fuhr er Rosaria an.
»Was?«, schnaubte sie. Sie hatte mittlerweile auch die letzte Münze an sich gebracht. »Er hat freiwillig mit mir getrunken, und er hat freiwillig mit mir gespielt. Ist es denn meine Schuld, dass er nichts verträgt
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