Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
Vom Netzwerk:
selbstmörderisch, doch er hätte es nicht ertragen, länger bei Miguel zu bleiben. Wenn du nicht willst, dass ich dich mitnehme, muss ich jetzt gehen. Und wenn ich nicht will, dass du »Hola, kleiner Bruder, nicht weinen« zu mir sagst, gehe ich besser schnell.
     
    Er ritt wie vom Teufel gehetzt. Hätte er sich in jener Nacht den Hals gebrochen, um in den Tiefen des Urwalds zu verrotten, es wäre ihm recht geschehen. Hinter blassen Wolken verschwand der Mond nicht ganz, war wie ein zaghaftes Versprechen noch zu sehen. Benito war zumute, als könnte er nur durch größte Eile Veracruz noch einmal wiedersehen, als würde die Stadt wie eine Liebste auf ihn warten, ehe sie im Morgengrauen verschwand. Wie zuvor seinem Bruder, so jagte er jetzt Veracruz entgegen, und mit mehr Glück als Verstand gelang es ihm, sich nicht den Hals zu brechen. Als die Sonne aufging, erreichte er seine Stadt.
    Er hatte sie nie mit so offenen Augen gesehen. Der verdreckte Barrio, der zu seinem gierigen, rücksichtslosen Leben erwachte, schien ihm im Morgenlicht zu leuchten. Die Flickschuster, Schuhputzer, Schokoladeverkäufer bezogen ihre angestammten Plätze und priesen in lauten Litaneien ihre Dienste an. Die Kleinhändler mit ihren Bauchläden marschierten auf und ab wie tapfere Soldaten, aus den Pulquerias torkelten Matrosen und Hafenarbeiter, und aus einem Hauseingang streckte eine alte Hure ihm den mit Reifen behängten Arm entgegen und versprach: »Bei mir bekommst du deine Wünsche von den Augen gelesen. Deine Braut ist eine Analphabetin gegen mich.«
    Benito musste lachen und hätte ebenso weinen wollen. An der Wasserpumpe, die schon lange kein Wasser mehr hergab, lehnte ein Junge und spielte Vihuela, ein trauriges Lied von einem grausamen Mädchen, vor sich einen Strohhut, in den von den Hungerleidern gewiss keiner eine Münze warf. Villa Rica de la Vera Cruz! Reiche Stadt des wahren Kreuzes, stets hatte ihm der Name, den der Eroberer Cortez der Stadt gegeben hatte, wie Hohn geklungen, aber heute klang er nichts als angemessen. Schlepp deinen Namen wie dein Kreuz, meine reiche Stadt. Während er in die krumme Gasse, in der er wohnte, einbog, begriff er, dass es keine Rolle spielte, ob er in irgendeinem Querétaro am Ende der Welt geboren worden war. Seine Heimat war diese Stadt, sie hatte ihn gemacht.
    Seine Wirtin, beladen mit ihrem Korb voll Tamales, fing ihn vor der Haustür ab. »Hören Sie«, schimpfte sie, »in Ihrem Zimmer sitzt seit gestern Nacht ein Mädchen, schon wieder eines, und allmählich sehe ich bei dieser Menage nicht mehr zu. In diesem Schmutzloch mag es von Bordellen wimmeln, aber mein Haus ist keines, schon gar nicht, wenn Sie nicht endlich Ihre Miete zahlen. Die Señorita habe ich nur eingelassen, weil sie behauptet hat, sie sei Ihre Schwester, und auch wenn ich ihr kein Wort glaube, ist sie Ihresgleichen. Wie Doña Carmencita. Mit denen sind Sie besser bedient, glauben Sie einer, die das Leben kennt. Das Blauauge mit der Mondlichthaut ist für Sie nicht gemacht, und wenn Sie noch länger mit dem Feuer spielen …«
    »Dann holt mich La Llorona, ich weiß«, unterbrach Benito sie. »Aber vorher zahle ich die Miete. Spätestens morgen, bei meiner hundertmal verpfändeten Ehre.«
    »Sie sind ein Schlimmer. Sie nehmen meine Warnungen nicht ernst.«
    »Nein«, sagte er und begann, die Treppe hinaufzueilen. »Aber ich verehre Sie, Doña Esmé.«
    Er hatte befürchtet, das Mädchen, das sich für seine Schwester ausgab, sei Inez, aber es war tatsächlich Xochitl. Sie saß auf dem Bettgestell in seinem Zimmer, in dem sich die Wärme des Morgens sammelte, in Huipil und Rebozo gewickelt wie ein ordentlich verschnürtes Paket.
    »Ist etwas mit der Mutter?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Frag nicht weiter. Es ist mit niemandem etwas. Nur mit dir.«
    Benito blieb in der Tür stehen, obwohl die Erschöpfung ihn mit Macht überfiel. »Ich bringe dich heim«, sagte er. »Hier kannst du nicht bleiben, und du darfst auch auf keinen Fall wiederkommen.« Die Vorstadt lag vom nächsten Stützpunkt der Armee, Fort Santiago, weit genug entfernt. War sie auch eine Brutstätte für Seuchen, während des Angriffs würden Xochitl und die anderen dort sicher sein.
    Xochitl war seine Schwester, ein wohlerzogenes Nahua-Mädchen. Sie warf ihm einen zornigen Blick zu, aber sie gehorchte. »Mit dir sprechen muss ich trotzdem.«
    »Das kannst du unterwegs tun.« Was auch immer sie zu sagen hatte, er wollte nur eines, sie so schnell wie

Weitere Kostenlose Bücher