Im Land der gefiederten Schlange
unterweise neuerdings Kinder in Bibelkunde. Was wollte sie selbst mit ihrem Leben tun, worauf wollte sie sich vorbereiten?
Ihr fiel nichts ein. Nichts, das nicht an der Frage hängenblieb, wann sie Benito wiedersehen und was aus ihnen werden würde. Mit Benito musste sie darüber sprechen! Dann aber, als sie wieder einmal Stefan bestürmte, sah der sie an wie ein englischer Spaniel und sagte: »Ich wünschte, du würdest mich nicht mehr fragen. Er hat ein Mädchen, Kathi. Eine Nahua.«
»Eine was?«
»Nahua. Das ist die Gruppe der Völker, der er angehört. Hast du das nicht gewusst?«
Katharina stieg Hitze in die Wangen. Wie ein dummes Kind hatte sie geglaubt, Nahua sei ein Wort, das er sich für sie ausgedacht habe. »Ich dachte, sein Volk hieße …«
»Azteken?« Stefan schüttelte den Kopf. »Das ist nur ein Begriff, den Alexander von Humboldt benutzt. Sich selbst haben diese Menschen so nicht genannt. Sie heißen Mexica wie ihr Land. Und ein Teil von ihnen heißt Nahua, was schöner Klang bedeutet.«
»Woher weißt du das?«
Stefan zuckte mit den Schultern. »Ich war zwei Jahre lang weg von hier. Ich habe zumindest ein paar Dinge gelernt, die nicht wie Weizenmehl zuvor ausgesiebt wurden.«
Wut und Ohnmacht ballten sich in ihrer Kehle. Warum hatte sie nichts über das Land, in dem sie lebte, lernen dürfen, warum war sie gehalten worden wie eine genudelte Made, die im Kokon steckte und niemandem nützte? »Das mit dem Mädchen«, schrie sie Stefan an, »das hast du dir ausgedacht, das würde Benito nie tun!« Nicht Benito, der um ihretwillen seine Stellung bei Helen aufgegeben hatte. Was konnte eine andere aufbieten gegen das, was sie verband? Benito hatte schon ihr gehört, als sie kaum laufen konnte, Benito hatte ihre verlorene Hälfte befreit und in seinen Armen liebkost.
»Sie heißt Inez«, sagte Stefan. »Er hat sie als Dienstmagd bei den Temperleys untergebracht. Sie ist, soweit ich das beurteilen kann, ein hübsches Mädchen, nach dem Männer die Köpfe drehen. Sie passt zu ihm, Kathi. Sie werden zusammenleben, ohne einen Teil von sich zu verlieren, ohne Wunden zu schlagen, die nicht heilen.«
Sie wusste nicht, was er redete. Die Wunde, die nicht heilte, hatte sie hier und jetzt. Sie rannte die Treppe hinauf, warf sich auf ihr Bett und schlug schreiend auf die Matratze ein, bis die Kräfte sie verließen. Verwunderlich war, dass niemand sie hörte, doch an diesem Abend waren alle mit anderem beschäftigt. Im Flur und im Salon gab es einen Tumult, weil die gesamte Familie – außer Helene und Tante Traude – zusammenlief.
Katharina wurde herunterbeordert. Alles redete durcheinander, doch zumindest etwas hörte sie heraus. Südlich von Veracruz sollten Schiffe der Nordamerikaner gesichtet worden sein. Es sind nur wenige, sagten die einen, es sind unzählige, unkten die anderen.
»Lassen sie denn Boote zu Wasser, wird man sie nicht einzeln abschießen können?«
»Sie sind doch unterlegen! In der Stadt sollen viertausend Mann stehen, mehr als das bringt keine Macht der Welt an einen feindlichen Strand.«
»Die Perser, meine Liebe, die Perser haben es getan!«
»Deine Perser sind Hirngespinste aus Legenden, Fiete. Wir schreiben 1847 und sprechen von Nordamerika.«
»Ich rate zur Ruhe«, warf Luises Ichsager ins Gewirr. »Ich versichere Ihnen, ich weiß in der westlichen Hemisphäre keinen besser befestigten Hafen als Veracruz. Ich erinnere an unsere drei Forts, ich erinnere daran! Ich hielte die Vereinigten Staaten für unbesonnen, wenn sie hier angreifen würden, ich bin im Gegenteil sicher, sie setzen sich unverzüglich in Marsch.«
Im Licht des Wandarms beugte sich Felix unbeirrt über sein Zeichenbrett. In der anderen Ecke saß Großtante Hille, von Fiete hereingeschleppt und auf ihren Thron gesetzt.
»Sie sind Protestanten«, vernahm Katharina Jos schwächliche Stimme, während die Mutter die Sanne anwies, für alle Suppe aufzutragen, gleichgültig, aus welchen Zutaten. »Gerlinde sagt, sie werden uns nichts tun.« Und dann sah Katharina, dass Jo sich zu ihr durchgekämpft hatte und die Hand nach ihr ausstreckte. »Ich muss dich sprechen, Kathi. Nicht hier.«
Katharina wollte niemanden sprechen. Sie wollte vor dem Gewirr der Stimmen flüchten wie vor den Bildern von Benito mit einem dunkelhäutigen Mädchen im Arm.
»Es ist wegen Ben«, flüsterte Jo und versuchte vergeblich Katharina aus dem Salon zu drängen. »Er hat mich abgefangen, als ich von Gerlinde kam. Er wartet auf
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