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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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dich. Am Marigoldstrauch.«
    »Da soll er warten, bis er schwarz wird«, versetzte Katharina so laut, dass Onkel Fiete sich umdrehte. »Mir ist nicht wohl«, rief sie zusammenhanglos und stürmte aus dem Raum.
    Zum Glück waren die meisten Anwesenden mit Amerikanern und Schiffen beschäftigt. Die Mutter aber kam ihr bis an die Treppe hinterher. »Kathi? Was ist mit dir?«
    »Nichts. Nur ein verdorbener Magen. Ich lege mich hin, dann ist es morgen wieder gut.«
    »Du hast geweint«, sagte die Mutter ins Zwielicht. Woher wusste sie das? Jäh wurde Katharina klar, dass die Mutter, die am Treppenabsatz wartete, eine Frau war wie sie. Flüchtig wünschte sie ihr nahe zu sein wie in der Nacht, als sie in ihrem Blut erwacht war. Sie hätte sie gern gefragt: Hat dich je ein Mann so verletzt? Wie hast du es ausgehalten, hat es irgendwann aufgehört, so weh zu tun?
    Der Augenblick verflog. »Mir geht es schon besser«, murmelte Katharina und wollte weitergehen, doch eine Männerstimme rief sie zurück. Onkel Fiete. Sein Kopf tauchte über der Schulter der Mutter auf. »Ich halte es für angebracht, dass Kathi bei uns bleibt. In einer Stunde der Prüfung sollte die Familie beisammen sein. Schlimm genug, dass meine Schwägerin Traude kein Einsehen hat.«
    Die Mutter rettete sie. »Katharina ist unwohl«, sagte sie. »Ob sie bei uns sitzt oder sich hinlegt, wird an der Lage wohl nichts ändern.«
    Katharina war dankbar, sie hätte die Verwandten im Saal nicht ertragen. Schlafen aber konnte sie erst recht nicht. Stundenlang saß sie am Fenster und starrte hinaus in die Nacht, in der Benito gewiss nicht mehr wartete, sondern das schöne Mädchen mit in sein Zimmer nahm. Mit der kindischen Katharina hatte er nie den Wunsch verspürt, es zu tun.
    In den nächsten Tagen schien alles erstarrt – der Krieg, die Erregung, selbst der Lauf der Zeit. Stunden krochen wie müde Schlangen. Die Starre lastete auf Katharina, die von schlaflosen Nächten ausgelaugt war und sich wie verwundet fühlte. Sie aß nichts, sprach kaum und mied jede entbehrliche Bewegung. In ihr aber wütete ein Sturm, der ihre Grundfesten ins Wanken brachte und sich irgendwann würde entladen müssen.
    Gelandet waren die Nordamerikaner tatsächlich, doch wie viele es waren und was sie taten, wusste Katharina nicht. Weiterziehen, nahm sie an. Irgendwohin, wo sie ihr Leben nicht berührten. Sie hatten die Wasserzufuhr und den Transport von Lebensmitteln nach Veracruz abgeschnitten, doch in der Siedlung gab es von beidem genug, und darüber hinaus vermochte Katharina nicht zu denken. Das Drama, das sich in ihrem Inneren abspielte, forderte all ihre Kraft, für ein Drama von außen gab es keinen Raum.
    Ihre Verwandten waren mit sich selbst beschäftigt. Zumindest kam es ihr so vor, bis es eines Abends an ihrer Tür klopfte und ihr Vater im Zimmer stand. Er war lange nicht mehr hier gewesen, nicht mehr seit jenem Tag. »Ich wollte nachschauen, ob es dir gutgeht«, murmelte er. »Die Mutter sagt, du isst schlecht.«
    Wie er dort stand, ein großer Mann mit massigen Schultern und den wärmsten Augen, die sie kannte, weckte er in ihr den Wunsch, noch einmal Kind zu sein und in seine Arme zu flüchten. »Es geht mir gut«, antwortete sie. »Nur ein verdorbener Magen, nichts Ernstes.«
    »Gott sei Dank.« Er sandte ihr ein Lächeln, das sofort wieder verschwand. »Ich hätte gern, dass du etwas weißt, Palomita.«
    Kleine Taube. So hatte er sie nicht mehr genannt, seit er an jenem Tag mit fremder Stimme gefragt hatte: Ist meiner Palomita etwas geschehen?
    »Ich bin ein maulfauler Hanseate und tue mich mit diesen Dingen schwer«, sagte der Vater. »Aber ich will, dass du weißt: Ich habe dich immer geliebt. Egal, was ich getan habe, egal, was wir alle getan haben, du warst vom ersten Tag an das Schönste für mich. Das Glück meines Lebens, und du bist es noch.«
    Egal, was wir alle getan haben. Auf einmal war es auch Katharina egal. Sie sprang aus dem Bett, lief im Nachthemd zu ihrem Vater und umarmte ihn. Er hielt sie und wiegte sie. Es wird alles wieder gut, nur ein kleines bisschen Mut.
    »Wenn es etwas gibt, was ich für dich tun kann, Palomita …«
    Diesmal war sie es, die ihm ein Lächeln sandte. »Du könntest mich zudecken, wie du es gemacht hast, als ich klein war.« Katharina legte sich nieder, und ihr Vater zog ihr die Decke an den Hals. »Morgen bin ich gewiss wieder gesund.«
    »Gewiss, mein Augenstern. Gute Nacht.« Er wandte sich zum Gehen, doch an der Tür

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