Im Land der gefiederten Schlange
Familie zu treten: Peter und ich, wir bekommen noch einmal ein Kind. Warum war es der anderen vergönnt, deren Tochter im Mai verheiratet sein und ihr Enkel schenken würde? Das aber war noch nicht das Schlimmste. Es war der Gedanke an die nächtliche Umarmung, die zu diesem Kind geführt hatte, die Marthe den Atem nahm.
Sie hatte sich damit abgefunden, dass die Jahre, in denen eine Frau hoffen durfte, von ihrem Mann begehrt zu werden, vorüber waren. Zuweilen war sie darüber sogar froh, weil sie dem qualvollen Ringen entkam. Es lag nicht länger an ihr, wenn Peter im Bett an die Wand starrte. Es lag am Alter, es traf alle Frauen irgendwann.
Doch eben das tat es nicht. Im Gegenteil. Die rundliche Dörte wurde von der Witzfigur Fiete so heiß begehrt, dass ein Kind dabei entstand. Als Mädchen hatte Marthe gelernt, dass Männer ein Verlangen hatten, und Frauen hatten keines, und wenn das Verlangen der Männer erlosch, waren alle Frauen froh. Aber so war es nicht gewesen. Das Verlangen hatte Marthe gehabt, es war unstillbar gewesen, und es hatte ihr Leben geprägt. Lag es daran? Bekam sie, weil sie die Sünde begangen hatte, einen Mann zu begehren, nie das, was andere mit leichter Hand errangen?
Und wennschon!, versuchte sie aufzutrumpfen. Ich habe eine Tochter, die tausche ich für nichts auf der Welt. Es war gut, dass sie Dörte los war, denn so konnte sie sich Katharina widmen. Sobald die Belagerung vorbei war, musste sie dem Mädchen einen Bräutigam finden. Sie sollte alles bekommen, was der Mutter versagt geblieben war. Und dann wird sie uns ihre Kinder bringen, und Peter und ich werden als Großeltern auf der Chaiselongue sitzen. Alle Lustseufzer der Welt spielen dann keine Rolle mehr.
Kurz streifte sie der Gedanke, dass Katharina von ihren Kindern vermutlich nur in Briefen berichten würde, da sie dann ja mit ihrem Mann in der Heimat lebte. Immer hatte sie davon geträumt, dass Katharina ihre Eltern mitnehmen würde, aber im Grunde wusste sie, dass das nur Träume waren. Wenn Katharina in der Heimat ihre Kinder aufzog, war es, als wäre ein Stück von Marthe mit ihr dort. Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloss. In diesem Augenblick schlug auf der Plaza de las armas die erste Granate ein.
Marthe hörte fernen Kanonendonner, ohne sich viel dabei zu denken. Erst als sie ihr Haus betrat und Katharina nicht fand, als der Donner nicht aufhörte und auch Lise wieder einmal nicht aufzufinden war, begann die Angst sich in ihr auszubreiten.
Kurz darauf kamen Christoph, Fiete und Hermann und hämmerten wie besessen an die Tür. »Marthe«, schrie Christoph, »seid ihr alle dadrinnen? Dem Himmel sei Dank.«
Sie redeten durcheinander, stießen Worte heraus wie geplatzte Wasserspeicher. »Der Hafen ist unter Beschuss. Unsere Kontore. Alles.«
»Ihr müsst im Haus bleiben, Marthe. Meine Luise und mein Sievert sind bei den Eycks in Sicherheit, alle anderen dürfen die Siedlung nicht verlassen.«
»Josephine ist doch bei euch, nicht wahr, Marthe? Sie ist doch drinnen bei euch?«
Als hätte die Zeit sich verlangsamt, brauchten sie unendlich lange, um zu erfassen, dass sowohl Peter und Katharina als auch Josephine und Felix fehlten. Wer in Traudes Haus war, wusste niemand. »Wir dachten, Peter wollte nach Hause«, murmelte Fiete, »aber er ging wohl erst noch in die Brauerei.«
»Ich hole ihn«, sagte Marthe.
»Das darfst du nicht!«, jammerte Christoph, aber Marthe war entschlossen. Sie würde Peter holen, und dann würden sie gemeinsam Katharina finden. Sie mochten einander nie wie die Tiere geliebt haben, aber sie waren Eltern desselben Kindes, durch dieses Kind verbunden wie kein anderes Paar.
Christoph war toll vor Angst um Josephine, außerdem hatte er Marthe noch nie an etwas hindern können, und Fiete war ein Hund, der bellte, aber nicht biss. Es war Hermann, der sich ihr in den Weg stellte. »Die Familie hat beschlossen, dass du nirgendwo hingehst«, sagte er, spreizte die Beine und warf sich in die Brust.
Es waren diese Worte, die Marthe zurückweichen ließen. War Hermann nicht eben noch ein Rotzlöffel gewesen, der die Hosen strammgezogen kriegte? Wann war er ihnen über den Kopf gewachsen, und woher nahm er diesen Ton? Es war nicht Fietes Ton, und es waren auch nicht Fietes Worte. Marthe schauderte. Sie, die allen Paroli bot, ließ sich von einem Lümmel einschüchtern, der nicht einmal wusste, was er sagte. Aber er sagte es. Die Familie hat beschlossen, dass du nirgendwo hingehst.
Im nächsten
Weitere Kostenlose Bücher