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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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ein Elternhaus. Was für ein Hohn! Noch einmal drehte sie sich nach den Flammen um, in denen ihre Selbsttäuschung aufging, dann rannte sie los, ohne auf Peter und Lise zu achten.
    Katharina war in Sicherheit. Ohne Zweifel war sie zu diesem englischen Fräulein gegangen, Georgia Temperley, mit der sie sich angefreundet hatte. Marthe hätte ihr die Besuche nicht verbieten dürfen, schließlich hatte das Mädchen sonst kaum passende Gesellschaft. Sie würde sie bei den Temperleys abholen und sich bei ihnen bedanken. Vielleicht würden die Temperleys ihr sogar helfen, aus der Stadt zu fliehen. Aus Veracruz, hallte es in ihren Ohren. Vera Cruz.
    Sie hatte es sich leicht vorgestellt, sich zum Haus der Temperleys durchzuschlagen, aber es war schier unmöglich. Was ein nobles Wohnviertel gewesen war, hatte sich in eine Hölle aus Feuer, brechenden Mauern und schreienden Menschen verwandelt. Der erste Mann, den sie fragte, ein Weißer in ordentlichem Anzug, brach, statt ihr Antwort zu geben, vor ihr zusammen. Erst als er am Boden lag, sah sie, dass sein linkes Bein eine von Granatsplittern zerfetzte Masse war. Ihn liegen zu lassen war grausam, aber helfen konnte sie ihm nicht. Helfen konnte sie nur Katharina, ihrem kleinen Mädchen, das zu Tode verängstigt sein musste und sich in ihre Arme werfen würde.
    Nach schier endlosem Irren stand sie schließlich vor dem Haus mit der hohen Gartenmauer, das dem Schild zufolge Little Hetford hieß und den Temperleys gehörte. Wie aber sollte sie sich Einlass verschaffen? In dem Pförtnerhaus saß kein Mensch, und durch die Streben des Tors war niemand zu sehen. Natürlich nicht. Vom Hafen herauf dröhnte unentwegt Geschützfeuer. Wer irgend konnte, verschanzte sich in seinem Haus. In ihrer Not begann Marthe zu schreien: »Katharina! Fräulein Temperley?« Jede Silbe tat weh, als würde eine Feile über ihre Kehle schaben. Aber Marthe schrie weiter. Irgendwann tauchte aus einer Seitentür ein Mann im dunklen Hausrock auf und kam den Gartenweg entlang auf sie zu.
    »What is the matter? Can I help you, Lady?«
    Erst jetzt fiel Marthe ein, dass sie kein Wort Englisch sprach. Ihr blieb nichts übrig, als auf das verhasste Spanisch auszuweichen. »Meine Tochter, Katharina Lutenburg … Ich bin gekommen, um meine Tochter abzuholen.«
    »Ka-tha-ri-na«, probierte der Mann. War er der Vater von Fräulein Georgia, ein Besucher, der Butler? »Wir haben keine Ka-tha-ri-na«, erklärte er in schwer verständlichem Spanisch.
    Also musste er wohl ein Bediensteter sein, dem Gäste nicht vorgestellt wurden. »Ihr Name ist Ihnen vielleicht nicht bekannt«, sagte Marthe schnell. »Ein großes Mädchen, Europäerin, dunkles Haar, helle Augen. Sie kommt her, um Señorita Georgia zu besuchen.«
    »Señorita Georgia«, wiederholte der Mann und schüttelte unwillig den Kopf. »Wir haben auch keine Señorita Georgia.«
    Hatte sie sich den Namen falsch gemerkt? Aber sie war sicher, dass Katharina und Stefan Georgia gesagt hatten! »Hören Sie«, bedrängte sie den Mann, »die Dame ist die Tochter des Hauses. Bitte lassen Sie mich zu ihr.«
    Der Blick, den der Mann ihr zuwarf, war nicht länger unwillig. Eher enthielt er eine Spur des leicht pikierten Mitleids, mit dem man schwachsinnige Bettler bedachte. »Es tut mir leid«, sagte er, »Sie haben jemanden verloren, vermutlich hat heute die ganze Stadt jemanden verloren, aber helfen kann ich Ihnen nicht. Sie haben sich im Haus geirrt. Eine Tochter gibt es hier nicht. Keine Catherine, keine Georgia, und jetzt entschuldigen Sie mich.«
     
    Eines Tages würde es in den Geschichtsbüchern stehen. Die Schlacht um Veracruz dauerte vier Tage. Um die Stadt durch Feuer in die Knie zu zwingen, setzten die Truppen der Vereinigten Staaten zweiunddreißigpfündige Kanonen, Congreve-Raketen, Mörser für Granaten und von der Seeseite eine Flottille von Geschützbooten ein. Am Morgen des fünften Tages erklärte Brigadegeneral Morales die Kapitulation der Stadt. Über dem Fort San Juan de Ulúa wurde das Sternenbanner gehisst, und die siegreichen Truppen zogen in die Ruinen der Stadt.
    Marthe war in ihr Haus zurückgekehrt, weil sie hoffte, dort Katharina zu finden. Vielleicht auch, weil sie sonst keinen Ort hatte, an den sie hätte gehen können.
    Am Abend nach der Kapitulation kehrte auch Katharina zurück. Sie war bleich und verdreckt, doch ansonsten unversehrt.

23
    Die Dornröschenhecke, die ihrem Lebensraum seine Grenze gesetzt hatte, der hohe Strauch mit den

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