Im Land der gefiederten Schlange
bleiben – möge nichts geschehen, das dein Vertrauen ins Leben zerstört. Einmal mehr war Josephine dankbar, dass Felice behütet im Schoß der Familie aufwuchs und das Geheimnis ihrer Herkunft bewahrt blieb.
Sobald sie den Platz erreichten, löste sich der Druck der Leiber, und die Menge verteilte sich. Ins Aroma des Weihrauchs mischten sich die würzigen Düfte der auf Ständen und Bauchläden verkauften Speisen. Vielleicht hätte dieses lärmende Volksfest am Kreuzigungstag des Herrn sie empören sollen, aber das tat es nicht. Es war gut, wenn Menschen einen Grund hatten, miteinander zu feiern, wenn sie aßen und tanzten, nicht kämpften.
Sie reckte sich auf Zehenspitzen und blickte sich um. Kinder drängten sich vor einer Frau, die Papayas in Scheiben schnitt und in Vanille, Chili und Honig kandierte. Zur Linken bauten Männer aus Kübelpflanzen und in Lumpen gehüllte Figuren einen Ostergarten auf. Tiefverschleierte Frauen knieten auf dem Pflaster und beteten, dazwischen hüpften die Trommler und Flötisten und forderten Zögernde zum Tanz auf. Erst am Nachmittag würde ein in Schwarz gehaltener Zug die Fröhlichkeit beenden, um sie am Ostermorgen neu zu erwecken. Josephine hatte ihre Freude an dem Bild. Besonders gefielen ihr zwei Reiter auf Schimmeln, ein Vater, der das Pony seines Sohnes an der Führleine hielt. Mehrmals beugte sich der Vater aus dem Sattel, um zu lauschen, während das Kind begeistert auf ihn einplapperte.
Und dann bemerkte sie, dass ihr die Hand ihrer Tochter entglitten war und dass sie ihr durch die Menge enteilte. »Felice!«, rief sie, so laut sie konnte, aber das Mädchen reagierte nicht. Wie blind rannte Felice auf ein Podium hinter dem Ostergarten zu. Josephine lief hinterher, musste aber mehrmals ausweichen und blieb weiter zurück. Sie sah die hellen Zöpfe der Tochter fliegen, sah, wie sie die Arme in die Luft warf, und hörte sie auf Deutsch schreien: »Hört auf! Nicht doch, hört auf!«
Jetzt entdeckte auch Josephine, worauf Felice zustrebte. Auf dem Podium, an einen Pfahl gefesselt, stand ein dunkelhäutiger Indio, der eine zerfetzte Tunika und um den Hals ein Schild mit der Aufschrift »Judas« trug. Geschützt von Uniformierten standen Leute Schlange und begannen, sobald sie an der Reihe waren, den Gefesselten zu bespucken oder mit fauligem Obst zu bewerfen. »Hört auf!«, schrie Felice. Ohne anzuhalten wollte sie sich zwischen den Uniformierten hindurchdrängen. Mit einem Sprung schlossen die Männer ihre Reihe und packten das Mädchen bei den Armen. »Komm zurück!«, brüllte Josephine aus Leibeskräften, doch die Tochter hörte sie nicht. Sie zappelte mit Armen und Beinen und schrie weiter die Leute an, sie sollten aufhören, derweil die Soldaten sie zu Boden warfen.
Aber jemand hatte sie gehört. Der Reiter mit dem kleinen Jungen. Als Josephine ihn sah, war er bereits vom Pferd gesprungen und warf dem Sohn die Zügel zu. Mit machtvollen Sätzen bahnte er sich einen Weg durch die Menge und riss Felice unter den Händen der Soldaten, von denen einer die Fäuste ballte, fort. Er fiel neben ihr auf die Knie, sagte etwas zu ihr und sprach dann zu den Soldaten. Die traten zur Seite. Einer lachte. Als wäre nichts geschehen, fuhren die Leute fort, den gefesselten Mann zu bespucken. Im nächsten Augenblick hatte Josephine die Gruppe erreicht und ging neben dem Reiter in die Knie.
»Das war sehr mutig von Ihnen«, hörte sie ihn zu Felice sagen. »Man hat Sie für eine bewaffnete Kirchengegnerin gehalten. Aber der Mann tut das freiwillig, verstehen Sie? Er wird dafür bezahlt, dass er den Judas spielt und jedem erlaubt, seine Wut auf Gott und die Welt an ihm auszulassen.«
»Aber das ist scheußlich!« Felice, mit dem Kopf auf den Knien des Mannes, schluchzte.
»Ja«, erwiderte der Mann, »ich finde, damit haben Sie recht. Es ist scheußlich, wenn ein Mann sich bespucken lassen muss, um seine Familie zu ernähren. Aber damit, dass wir ihm seinen Verdienst zerstören, machen wir ihm das Leben nicht leichter.«
»Können wir ihm nicht Geld geben?«
»Das könnten wir natürlich.« Der Mann zog ein Taschentuch aus der Brusttasche und half Felice, sich Dreck und Tränen vom Gesicht zu wischen. »Aber wir würden ihn damit verletzen. Er braucht kein Almosen, sondern ordentlich bezahlte Arbeit, und ich denke, die wird er bekommen. Wir haben jetzt einen Präsidenten, der vor der Not nicht die Augen verschließt – und vor allem haben wir Menschen wie Sie, die
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