Im Land der gefiederten Schlange
aufbegehren, wenn Unrecht geschieht.«
Josephine kauerte wie gelähmt daneben und fand das eine so unfasslich wie das andere – dass dieser Fremde in seinem tadellosen Anzug mit ihnen im Staub kniete, wie dass er mit ihrer Tochter Deutsch sprach. Als er ihr das Gesicht zuwandte, sah sie etwas, das noch unfasslicher war: Sein Gesicht war schön. Es gab nicht viele Menschen, von denen sich das auf den ersten Blick sagen ließ und bei denen es auf den zweiten Blick standhielt. Klare geschwungene Züge, Lider wie Muscheln, feste Lippen, ein Gesicht wie aus der Lieblingsidee eines Gottes geboren. Das ist heidnisch, schoss es Josephine durch den Kopf, und zugleich wurde ihr klar, dass das schöne Gesicht des Mannes, der Deutsch sprach und einen maßgeschneiderten Anzug trug, dunkel wie Ackerboden war und nichts Europäisches an sich hatte.
Er hob den Blick, und sie sah seine Augen. »Ich glaube, Ihre Mutter ist jetzt da«, sagte er zu Felice, und Josephine fürchtete, in Ohnmacht zu sinken.
»Ist das wirklich wahr?«, stammelte sie. »Ben? Kathis Ben?«
Über sein Gesicht breitete sich ein Lächeln, das sie in die Hände nehmen und festhalten wollte. In den Augenwinkeln und um den Mund verrieten feine Linien, dass er wusste, wie Schmerz schmeckte, aber das Leuchten der Augen verriet nichts als Liebe zum Leben. »Ich denke, das geht als Vorstellung durchaus in Ordnung. Und Sie sind Jo? Katharinas Jo?«
In ihrem ganzen Leben hatte Josephine noch nie mit einem fremden Mann laut gelacht. Aber er war ja kein Fremder! »Ihre Tochter ist großartig«, sagte er und half Felice, sich zum Sitzen aufzurappeln. »Sie müssen sehr stolz auf sie sein.«
»Das bin ich«, erwiderte Josephine. »Aber Ben, was tust du denn in Mexiko-Stadt, bist du zu Besuch oder wohnst du hier?« Sie schlug sich so fest auf den Mund, dass es klatschte. »O mein Gott, was bin ich für eine törichte Gans. Bitte verzeihen Sie …«
»Nicht doch. Ich fühle mich alt, wenn jemand mich siezt.«
»Nein, wirklich, Sie müssen entschuldigen …«
»Nun gut. Wenn ich muss, dann tue ich das.« Er stand auf, klopfte sich nachlässig Staub von den Schenkeln und bückte sich dann nach der Zeitung, die ihm hinuntergefallen war.
El Siglo XIX.
Felice war bereits auf die Füße gesprungen.
Er hielt ihr die Hand hin und half ihr auf. Josephine wusste, sie musste jetzt sprechen, oder der Augenblick war vorüber, und in der Riesenstadt mit ihren bald zweihunderttausend Menschen würde sie nicht noch einmal ein Zufall zueinanderführen. Kommen Sie mit zu unserem Wagen, musste sie sagen, Kathi wartet dort. Felice und ich lassen Sie allein.
Sie sagte nichts. Stattdessen erklärte er: »Ich muss gehen.«
»Ich weiß. Zu Ihrem kleinen Jungen mit den Pferden.« Eben war es ihr eingefallen, und im selben Moment setzte das Lärmen der Menge, das verstummt war, wieder ein. Er musste dreiunddreißig sein, er hatte eine Frau, er ritt mit seinem Kind nach Hause und aß grünes Gemüse zu Karfreitag. Nur eine törichte Gans wie Josephine vergaß auf einen Schlag vierzehn vergangene Jahre. »Bitte entschuldigen Sie …«
Er lächelte. »Das habe ich doch schon. Aber wenn ich muss, tue ich es auch noch einmal.«
Josephine sah, wie er sich von Felice verabschiedete, die ohne Scheu auf ihn einschnatterte, und wie er mit ihr lachte. Mit aller Kraft wünschte sie sich etwas, das sie hätte sagen können, nur einen einzigen Satz, ein Wort, das die Zeit aufhielt. Irgendwann wandte er sich wieder zu ihr, nahm die Hand, die sie ihm steif entgegenhielt, und beugte sich darüber. Formvollendet küsste er die Luft. »Ich habe mich so gefreut, Jo«, sagte er.
»Ich auch«, brach es aus ihr heraus. Sein leuchtender Blick traf den ihren. Und dann war es vorbei.
Wie im Taumel ging sie mit Felice durch die sich lichtenden Menschentrauben zurück zum Wagen. Wohin sie trat, sah sie nicht, und was sie dachte, hätte sie nicht in Worte zu kleiden vermocht.
Felices Ellbogen traf ihre Seite. »Hörst du mir überhaupt zu, Mutter?«
»Oh, verzeih!«, sagte Josephine schnell. »Es ist so laut hier, ich habe dich wohl nicht gehört …«
»Dann eben nicht«, erwiderte Felice gekränkt. »Ich kann ja mit Kathi darüber reden.«
»Hör mal, Felice«, Josephine blieb stehen und nahm ihre Tochter beim Arm, »du sagst Kathi kein Wort davon, dass wir diesen Mann getroffen haben, hast du verstanden?«
»Aber warum denn nicht?« Empört befreite Felice ihren Arm. »Ich will ihr alles erzählen –
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