Im Land der gefiederten Schlange
Kotzerei.
Vor dem Pförtnerhaus lief sie ausgerechnet Claudius von Schweinitz in die Arme, von dem sie nie wusste, wie sie ihm begegnen sollte. Sie hatten dem Mann ihre Existenz zu verdanken, und außerdem war er einer der angenehmsten Menschen, die sie kannte. Andererseits hatte er in seinem Leben einen unverzeihlichen Fehltritt begangen, für den man ihn hätte ächten müssen. »Hola«, rief er und wich geschickt aus, ehe sie gegen ihn prallte. »Wie üblich legen Sie ein bemerkenswertes Tempo vor, liebe Frau Marthe.«
»Ich muss meinen Bruder sprechen«, stieß sie aus und wollte an ihm vorbeieilen.
Zu ihrem Schrecken ergriff er ihren Arm und hielt sie fest. »Das ist gut«, sagte er und zwang sie, ihn anzuschauen.
»Was ist gut?«
»Dass Sie unterwegs zu Ihrem Bruder sind. Ausgesehen haben Sie nämlich, als wäre der Teufel hinter Ihnen her.«
»Ich bin nur …«
»Außer Atem?« Galant lächelte er. »Es steht Ihnen. Als Sie eben durchs Tor stürmten, haben Sie mich an Ihre Tochter erinnert.«
Marthe wollte patzig fragen, was er mit Katharina zu schaffen habe, da fiel ihr ein, was sie am liebsten verdrängte – dass Katharina mit der verfluchten Mestizin, seiner Tochter, befreundet war und dass sie ihr nicht länger Menschen verbieten konnte, weder die Mestizin noch Schlimmeres. Umso mehr musste sie verhindern, dass das Schlimmere je wieder in ihre Nähe kam. »Ich bin wirklich in Eile«, stammelte sie.
Claudius von Schweinitz hatte ihren Arm bereits losgelassen. »Wenn wir uns allzu gehetzt fühlen, lohnt es, sich umzudrehen und nachzusehen, ob hinter uns überhaupt jemand ist«, bemerkte er. »Frohe Feiertage. Grüßen Sie Katharina.«
Im Weiterlaufen spürte Marthe seinen Blick im Nacken.
Sie stürzte in Christophs Büro und atmete erleichtert auf, weil er allein am Schreibtisch saß. »Was hat der Baron hier gewollt?«, platzte sie ohne Begrüßung heraus.
»Baron von Schweinitz?«
»Zur Hölle, Christoph, wie viele Barone kennst du?«
Endlich stand ihr Bruder hinter dem Schreibtisch auf. »Wie siehst du denn aus, Marthe? Ist etwas passiert?«
»Das denken wir beide immer, nicht wahr? Kaum taucht einer von uns beim anderen auf, erwarten wir das Schlimmste. Und diesmal zu Recht. Ich brauche Geld.«
»Geld …«, wiederholte er, starrte auf den Schreibtisch, als läge dort welches herum. Unwillkürlich folgte Marthe seinem Blick, und vor Verblüffung entfuhr ihr ein Laut. In Christophs Durcheinander von Papieren lag tatsächlich Geld, ein kleiner Stapel grünlicher Banknoten. »Setz dich doch hin«, murmelte ihr Bruder. »Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«
»Bist du taub? Ich habe gesagt, ich brauche Geld.«
»Hermann hat angeordnet, dass keiner von uns Geld entnimmt, bis die Lage geklärt ist«, erwiderte Christoph lahm. »Bei persönlichem Bedarf sollen wir mit ihm sprechen.«
»Macht ihr jetzt alle, was Hermann sagt?«, entfuhr es Marthe verächtlich. »Braucht ihr den Hermann zum Denken, ein Jungchen, dessen Verstand noch kurze Hosen trägt?«
»Du bist ungerecht«, sagte Christoph. »Hermann hat …«
»Hermann ist mir egal«, fuhr sie ihm ins Wort. »Ich weiß, dass wir alle wie Hille waren, als wir herkamen, wie lebende Puppen, die man auf Sockel setzen konnte, und dass die Jungen den Karren aus dem Dreck ziehen mussten. Aber seitdem sind doch mehr als zehn Jahre vergangen. Wie auch immer, ich jedenfalls brauche zweihundert Pesos, und du kannst Gift darauf nehmen, dass ich nicht Hermann danach frage.«
»Zweihundert Pesos?« Er fragte nicht, wofür sie eine solche Summe brauchte, er wusste es, wie sie es im umgekehrten Fall gewusst hätte. »Aber woher soll ich die denn nehmen?«
Ungerührt wies Marthe auf den Stapel. »Ich brauch’s in Münzen. Aber auf der Bank werden sie es mir wohl einlösen.«
»Das ist Claudius von Schweinitz’ Geld.« Christophs Stimme krächzte. »Er hat es mir zu treuen Händen übergeben. Wir lassen für ihn eine Kollektion in Seide fertigen und müssen das Rohmaterial vorab bezahlen …«
»Hörst du dir eigentlich selbst zu?«, fragte Marthe. »Du schwatzt mir die Ohren voll mit Kollektionen und Seide – meinst du nicht, das solltest du Leuten erzählen, die in ihrem Leben Platz dafür haben? Gib mir das Geld, Christoph. Oder willst du, dass ich der Frau, die mich erpresst, stattdessen unser kleines Mädchen gebe?«
Christoph machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Auf seine Oberlippe trat Schweiß, als wäre er noch ein Kind, das
Weitere Kostenlose Bücher