Im Land der gefiederten Schlange
Prozession sehen wollte. Kathi hatte es ihr versprochen und Josephine beschworen, sich ihnen anzuschließen. »Nun komm schon, Torben fährt uns, du bist so sicher wie in Abrahams Schoß. Felice würde sich freuen, wenn du mitkommst, Jo.«
Josephine wusste, Kathi missfiel, dass sie so wenig mit Felice unternahm. Und recht hatte sie. Sosehr sie ihre Tochter liebte, die scheue Fremdheit, die sie seit der Geburt in ihrer Nähe empfand, hatte sie nie überwunden. Zuweilen schien es, als wäre nicht sie, sondern Kathi Felices Mutter, die sie unter ihre Fittiche nahm und ihr die Welt erklärte. Kathi hätte Kinder haben sollen, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut nicht zum ersten Mal. Hätte sie sich damals in den ersten Jahren nicht so viel um Felice kümmern müssen, vielleicht hätte sie noch einmal einen Mann geliebt.
Sie hätte noch immer heiraten können. Auch wenn sie im üblichen Sinne nie schön gewesen war, besaß sie etwas, nach dem Männer die Köpfe drehten. Und das, obwohl sie nicht im mindesten auf ihr Äußeres achtete, in ihrer Lehrerinnentracht ohne Schnürleib herumlief und ihre Haarmassen bis in die Taille offen trug. Es war ihr Wesen, das Verehrer verschreckte, ihre Art, wie ein Mann um Dinge zu streiten, die Frauen nichts angingen. Auch jetzt schlug sie die Zeitung, in der sie gelesen hatte, undamenhaft auf ein Knie und schimpfte über den Bürgerkrieg in Nordamerika.
»Wenn ich in der Burg das Sagen hätte, würde ich dir verbieten, dieses Schundblatt zu lesen«, schimpfte Torben, der den Wagen fuhr, zurück und riss das Pferd hart am Zügel, um einer Gruppe tanzender, flötender, trommelnder Männer auszuweichen. »
El Siglo XIX
– Dreck, den anarchistische Wilde zusammenschmieren. Die Konföderierten haben doch recht, wenn sie ihre Sklaven behalten wollen. Hätten wir welche haben dürfen, hätten wir jetzt keinen Affen zum Präsidenten und keine französischen Truppen im Land.«
»Herrgott, Torben, plapperst du immer noch den Unsinn nach, den Hermann schwatzt? Nur, damit du es weißt, den Schuldenberg bei den Franzosen haben Konservative angehäuft, nicht Juárez’ Liberale, die jetzt dafür geradestehen müssen.«
»Mich würde nicht wundern, wenn du irgendwann selbst behaupten würdest, eine Liberale zu sein, Kathi.«
»Nein, ich bin keine«, widersprach sie. »Mir ist gleichgültig, wer regiert, solange er dem ewigen Kämpfen ein Ende macht und diesem armen Land Frieden bringt. Und jetzt habe ich genug von dem Gezänk, wir verderben Felice ja den ganzen Spaß. Was ist, wollen wir aussteigen und uns ins Vergnügen stürzen?«
»Ich habe Arbeit zu erledigen«, nörgelte Torben. »Wenn ihr den Wagen hier stehenlassen wollt, mache ich euch nicht den Sklaven, der ihn bewacht.«
»Ich kann hierbleiben«, versuchte Josephine zu schlichten. Vor dem Gedränge graute ihr ohnehin, aber Kathi schüttelte den Kopf.
»Kommt überhaupt nicht in Frage. Felice hat sich auf den Tag mit dir gefreut. Wenn eine von uns bleibt, dann ich.«
»Das wirst du dann tun müssen«, sagte Torben, lenkte den Wagen an den Rand und zügelte das Pferd. Felice, die vor Aufregung zappelnd auf dem Trittbrett stand, schien es nicht zu kümmern, ob ihre Mutter mitkam oder nicht.
»Also ins Getümmel mit euch!« Josephine schnappte nach Luft. Meinte Kathi das ernst, wollte sie sie wirklich in diesen brodelnden Hexenkessel schicken? Zweifellos war der Anblick großartig – die leuchtenden Farben, das wimmelnde Leben, die Fetzen von Musik und der Duft des Weihrauchs überwältigten Jo, aber sie hätte das alles aus sicherer Entfernung betrachten wollen, statt sich todesmutig hineinzustürzen. Felice sprang vom Trittbrett und tauchte in der Menge, die dem Zug folgte, unter. Torben stieg hinterher und ging seines Weges, ohne sich um das Mädchen zu kümmern. Kathi versetzte Jo einen Stoß. »Na los, amüsiert euch. Ich warte und lese in Ruhe meinen
Siglo.
«
Die liberale Zeitung, auf die Torben geschimpft hatte, lag bereits aufgeschlagen auf ihren Knien, und Josephine blieb keine Wahl, als ihrer Tochter hinterherzueilen. Augenblicklich schluckte die Menge sie auf. Sie konnte nicht entscheiden, wohin sie ging, sondern wurde geschoben und gedrängt. Krampfhaft umklammerte sie die Hand der voranstürmenden Felice, um nicht von ihr getrennt zu werden. Immer wieder verblüffte es Josephine, mit welchem Mut ihre Tochter gesegnet war, obwohl sie blass und schmächtig wirkte wie sie selbst. Möge der Mut dir erhalten
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