Im Land der gefiederten Schlange
trug dem General den Schimpfnamen »Tiger von Tacubaya« ein. Dass Martina sich retten konnte, kam einem Wunder gleich, und dass sie dabei noch einen angeschossenen Stabsarzt rettete, war die Krone des Wunders.
Der Stabsarzt vergaß ihr die Heldentat nicht. Seinem Einsatz verdankte es Martina, dass sie an der medizinischen Fakultät wie ein Mann studieren durfte. Martina von Schweinitz bekommt alles, was sie will, dachte Katharina mit einem leisen Lachen und einem noch leiseren Anflug von Wehmut.
»Ich glaube nicht, dass die Franzosen sich lange halten«, nahm sie den Faden wieder auf. »Die Spanier und Briten sind schließlich auch abgezogen.«
»Aber die Spanier und Briten wollten auch nur ihr Geld zurück und waren verhandlungsbereit. Napoleon III . dagegen will etwas ganz anderes.«
»Und was?«
»Macht«, erwiderte Martina schlicht. »Ein Mexiko, das er nach seinem Gutdünken lenken und wirtschaftlich ausbeuten kann. Warum sollte er sich sonst mit einem Armeeaufgebot für die Ansprüche irgendeines Schweizer Bankhauses einsetzen? Und warum tut er das ausgerechnet in einem Augenblick, in dem die Vereinigten Staaten uns nicht beispringen können, obwohl sie erklärt haben, jede Einmischung in die Angelegenheiten Amerikas zu verhindern? Weil er sich in unsere Angelegenheiten einmischen möchte, Kathi. Er ist überzeugt, die europäische Kultur sei der unseren derart haushoch überlegen, dass wir es sogar bejubeln würden, wenn uns künftig kein zu kurz geratener Indio mehr regiert, sondern ein europäischer Prinz von Frankreichs Gnaden.«
»Manchmal beneide ich dich«, murmelte Katharina und sah zu ihrer einstigen Schülerin auf, die an die steinerne Brüstung trat und über die Dächer der Stadt blickte.
»Das tun viele.« Martina lachte. »Aber warum so plötzlich?«
»Weil du so genau weißt, dass du nach Amerika gehörst. Obwohl du französische Roben trägst und dir in London deine Sessel polstern lässt, fragst du dich nie, ob du nicht eigentlich Europäerin bist.«
Wieder lachte Martina, dass es in den geröteten Abendhimmel hallte. »Weißt du, wie weit Europa von hier weg ist? Ich könnte genauso gut behaupten, ich käme vom Mond.« Sie schwang herum, ging zum Tisch und goss noch einmal gut zwei Fingerbreit in ihr Glas. »Und jetzt genug von der unappetitlichen Politik. Ich hab dich gebeten, meine Allerliebste zu sein und herzukommen, weil ich dir etwas erzählen wollte. Und dabei fiel mir auf, dass es etwas gibt, das ich dich noch nie gefragt habe.«
»Unmöglich«, gab Katharina schmunzelnd zurück. »Sag mal, was trinkst du da eigentlich?«
»Tequila, Schätzchen. Nur für harte Mädchen.«
»Goldener Tequila, geh mir nach oben, nach unten, in die Mitte und ins Herz«, platzte Katharina heraus, nahm Martina das Glas weg und trank es leer.
Martina prustete wie ein Mann. »Wenn das meine Mutter sehen würde – die glaubt, du bist der Anstand in Person.«
»Deine Mutter weiß durchaus, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt«, versetzte Katharina gleichmütig. »Wie lautet nun die Frage, die du mir noch nie gestellt hast?«
»Warum hast du eigentlich nie geheiratet, Katharina Lutenburg?«
Die Frage war ein Keulenschlag. Als ihre Lehrerin hatte sie Martina und den anderen Mädchen eingeschärft, keine Frage ungestellt zu lassen und auf keine Antwort zu verzichten. Aber nach der Antwort auf diese Frage durfte sie selbst niemals suchen. »Warum willst du das wissen?«, fragte sie lahm zurück.
Martina füllte das Glas nach und hielt es ihr hin. »Ich hätte nie gedacht, dass du derart erbleichen kannst. Im Augenblick siehst du aus wie deine Base Jo. Ich will’s wissen, weil mir, wie dir vielleicht nicht entgangen ist, an deiner Ansicht liegt. Und weil ich mich frage, ob etwas Erhebliches gegen das Heiraten spricht.«
Katharina hätte gern gelogen. Dass deutsche Mädchen das nicht taten, war ein Witz, über den sie nicht lachen konnte, und dass sie es nicht tat, lag an Martina und der Art ihrer Freundschaft. »Ich weiß nicht, ob etwas dagegen spricht«, sagte sie und trank mit spitzen Lippen von der bittersüßen Flüssigkeit. »Ich sehe, wie meine Eltern miteinander leben, wie Hermann mit Juliane und Helene mit Sigmund lebt und bin froh, dass ich so nicht lebe. Ich denke, Alleinsein ist leichter, wenn man es allein tun kann. Aber ich sehe auch deine Eltern, und dann denke ich, dass ich das gern getan hätte – mit jemandem
Weitere Kostenlose Bücher