Im Land der gefiederten Schlange
Benito sich selbst, wenn er dem Bruder zuhörte – er sah Miguel aus einem Hinterhalt springen und eine Maultierkarawane mit der Machete bedrohen. Gleich darauf sah er uniformierte Wachpolizisten, die ihn mit Gewehren im Anschlag umzingelten. Woher nahm der Bruder nur solchen Mut? Benito sagte noch immer nichts.
»Du bist ein wortkarger Schrat«, bemerkte Miguel und klatschte ihm auf den Rücken. »Aber du bist eben noch ein Kind und außerdem verdorben von den Deutschen. Von dir kann keiner erwarten, dass du eine Spur von alldem begreifst.«
Inzwischen hatten sie die Herrenhäuser, bepflanzten Innenhöfe und gepflasterten Straßen hinter sich gelassen. Die Gebäude wurden kleiner, unter die niedrigen Ziegelhäuser mischten sich Hütten aus Reisig und Lehm. Die Regenzeit hatte den Sand der Wege in Schlamm verwandelt, in dem die Füße bis zu den Knöcheln stecken blieben. Wie zum Hohn brannte dazu die sengende Augustsonne. Der Schatten hoher Palmen fehlte hier so sehr wie die Brise vom Meer, und die Wälder mit ihren tausendjährigen Zypressen waren noch weit. In der Luft, die schwer und ungesund schmeckte, summten Schwärme von Insekten. Dies war die Vorstadt, in der die indianischen Bewohner von Veracruz hausten, meist Frauen mit Kindern, die ihre Männer und ihre Milpa – die Scholle Erde, die sie ernährt hatte – verloren hatten. Deshalb zogen sie aus ihren Pueblos, den Dörfern im Bergland, in die großen Städte, wo sie hofften irgendeine Art von Arbeit zu finden.
Benitos Familie war aus dem Hochland unweit der Stadt Santiago de Querétaro gekommen, wo die Farbe Grün tausend Schattierungen aufwies und das Geschrei der Vögel, die den Tag begrüßten, tausend Stimmen. Alle Lieder und Geschichten der Mutter stammten von dort, und wenn sie davon erzählte, sprach sie den Namen der Landschaft nie aus, sondern nannte sie die Heimat. In der Heimat hatten sie ihr Maisfeld gehabt und ein Stück Weideland für Ziegen, sie hatten einen Vater und einen Paten gehabt und waren glücklich gewesen, beteuerte die Mutter. Miguel und Xochitl nickten dazu, doch Benito besaß keine Erinnerung.
Haufen von Abfall schmorten in der Hitze und verbreiteten Schwaden fauligen Gestanks. Je näher sie aber dem Haus der Mutter kamen, desto stärker begannen andere Gerüche den üblen Mief zu überlagern – der Duft nach in Schmalz gebackenen zerstampften Bohnen und Bananenscheiben und das rauchige Aroma der Barbacoa de Borrego, eines in Agavenblätter gewickelten Schafbratens, der in einer Grube über Holzkohle gegart wurde. »Merkst du’s?« Miguel reckte die Nase in die Luft wie ein witternder Ozelot. »Die Mutter hat ordentlich aufgetischt für den hohen Besuch. Sogar ein Stück Fleisch hat sie beschafft.«
Benito wünschte, sie hätte das nicht getan. Er bekam bei den Lutenburgs genug zu essen, wenn auch die Sanne ihm die schlechtesten Bissen zuwies, und er wusste, dass das Geld, das er der Mutter schickte, kaum zum Überleben reichte. Dennoch erfüllte ihn der Gedanke mit einer kurzen, scharfen Freude. In manchen Nächten stellte er sich vor, hier zu leben wie Miguel und Xochitl und von der Mutter umsorgt zu sein.
Sie kniete vor dem Erdloch, in dem überm Holzfeuer Fleisch briet, hörte ihre Schritte und sprang auf, um ihnen entgegenzulaufen. Alt war sie noch nicht – nicht viel älter als Katharinas Mutter, doch ihr Gesicht unter dem Rebozo erschien älter als das der Großtante Hille, die sie Königinmutter nannten. Die mochte an die siebzig Jahre alt sein, doch unter den Nahua-Frauen wurde kaum eine älter als vierzig.
»Meine Kinder, meine prächtigen Söhne! Unsere Herrin, die Jungfrau von Guadelupe, sei gelobt!« Die Mutter schlang ihre mageren Arme um Miguel, dann schloss sie Benito in die Umarmung ein, reckte sich und küsste beide auf die Wangen.
Benito wollte den Schmerz nicht mehr fühlen. Er war vierzehn Jahre alt, er war mehr als einen Kopf größer als die Mutter, und er war ohne sie ausgekommen seit dem Tag, an dem sie ihn heulend und krakeelend in Miguels Schlepptau fortgeschickt hatte. Er wollte sich der Sehnsucht nicht erinnern, von der er als Kind gedacht hatte, sie werde ihn umbringen, und die er fest in sich verschlossen hatte. Sobald er aber ihre Arme um sich spürte und ihren Duft wahrnahm, schrumpfte er wieder zu dem kleinen Jungen, und der Schmerz und die Sehnsucht waren wieder da.
Diese kurze Spanne Kindheit in der lehmfeuchten Hütte, die Lieder und der Duft der Mutter waren alle Heimat,
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