Im Land der gefiederten Schlange
die er kannte. Flüchtig ließ er sich in ihren Arm fallen, dann spürte er den Leib des Bruders neben seinem und richtete sich auf. Kindheit, so begriff er, war ein Land, in das man nicht zurückkehren konnte, selbst wenn man viel zu kurz darin verweilt hatte.
»Du hättest dich mit dem Essen nicht mühen sollen«, meinte er und befreite sich. »Miguel hat gesagt, du fühlst dich wieder krank.«
»Ich werde doch wohl eine schlichte Barbacoa zurechtmachen dürfen, wenn ich einmal alle meine Kinder um mich habe!« Sie wies auf das Erdloch, aus dem der würzige Rauch aufstieg. Die Frauen der Nahua gruben für dieses Gericht eine gut einen Meter tiefe Grube aus, häuften Steine und glühende Holzkohle hinein und deckten sie mit einem Gitter ab. Auf das Gitter stellte Benitos Mutter ihren verbeulten Topf, in den sie Wasser, Zwiebeln, Limonen und Koriander schichtete, und darüber legte sie ein zweites Gitter, auf dem brutzelnd und zischelnd das umwickelte Fleisch garte. Das Fett, das aus dem Bratgut in die Kasserolle tropfte, verwandelte deren Inhalt in eine Suppe, die Benito lieber aß als sämtliche Köstlichkeiten im Haus der Lutenburgs. Muttersuppe hatte er sie früher insgeheim genannt.
Flink lief die Mutter zur Grube und beugte sich darüber. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein, Miguel sprach ständig davon. »Die Mutter war einmal schöner als die verdammte Malinche, an deren Schönheit ein Volk zugrunde ging.« Benito erinnerte sich nicht. Er fand sie immer noch schön, wie eine Blüte des Kapokbaums, die zart und duftend zwischen kräftigen Blättern stand, schnell welkte und zerfiel.
»He, ihr Mädchen«, rief sie in Richtung Hütte, »packt an, unser Braten ist gar. Und ihr zwei setzt euch und lasst euch auflegen.«
»Sie ist gar nicht krank, nicht wahr?«, fragte Benito seinen Bruder, während sie zur Hütte hinüberschlenderten.
Miguel zuckte mit den Schultern. »Du weißt, dass sie hustet.«
Wie zum Beweis stieß die Mutter, der die Rauchschwaden in die Kehle stiegen, ein paar hustende Laute aus.
»Aber sie hat nicht gesagt, sie will mich sehen, weil sie krank ist«, beharrte Benito.
»Hör mal«, fuhr ihn Miguel an, »wenn es dir zu viel ist, dich einmal in drei Monaten von deinen Extranjeros zu trennen und deine Familie zu besuchen, dann mach, dass du wegkommst. Ich werde dich künftig nicht mehr behelligen.«
»Davon habe ich ja nichts gesagt«, begann Benito sich zu erklären, aber der Bruder ließ ihn nicht ausreden.
»Ja, ich habe ein wenig geflunkert. Ich habe der Mutter gesagt, du wolltest sie sehen, weil sie Nacht für Nacht nach dir weint, obgleich du darum keinen Pfifferling gibst. Macht das jetzt einen Unmenschen aus mir?«
»Nein«, murmelte Benito. Mehr zu sagen war zwecklos, außerdem hatten sie die Grube erreicht. Miguel setzte sich zur Mutter, während Benito stehen blieb und durch die Rauchwolken zusah, wie sie das Fleisch aus der Umhüllung schälte und mit gekräutertem Fett bestrich. Der Rebozo war ihr auf die Schultern gerutscht und gab den schweren eisgrauen Haarknoten frei. Sie war so klein gegen die Frauen in der deutschen Siedlung, so schmal und zerbrechlich. Weinte sie wirklich manchmal in der Nacht um ihn, oder lag sie vielmehr in Sorge um Miguel wach, der jeden Tag verhaftet werden konnte?
Stimmen vom Haus her setzten seiner Grübelei ein Ende. Aus der niedrigen Tür traten zwei Mädchen, beide in gewebten Wollröcken und Huipil-Blusen, beide mit über eine Schulter frisierten Zöpfen. Die eine war seine Schwester Xochitl, die andere kannte er nicht. Sie trug einen Topf mit honigduftender Atole, gesüßter Milch mit Maismehl, und wiegte sich dabei in den Hüften, als wäre die Last sehr schwer. Benito hatte sie nie zuvor gesehen. Er verliebte sich auf der Stelle in sie.
Sie war noch kleiner als Xochitl. Er fand kleine Frauen bezaubernd. Während er sie ansah, kam ihm in den Sinn, dass er ihr, wenn er sie in den Armen hielte, hinunter auf den Scheitel schauen könnte, und die Vorstellung entzückte ihn.
»Kleiner Bruder!« Seine Schwester nahm ihn bei den Schultern und reckte sich auf Zehenspitzen. Ihr Kuss war flüchtig wie ein Federstreich. Benito wünschte, ihre Begleiterin möge ihn ebenso küssen, denn mehr hätte er nicht ausgehalten. Die Begleiterin küsste ihn nicht. Sie blieb vor ihm stehen, als Xochitl zur Seite trat, und lächelte ihn an. Ihre Zähne, fand Benito, glichen kleinen Perlen.
»Wollt ihr zwei euch nicht begrüßen?«, fragte die
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