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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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dabei verloren, und wir waren ärmer als zuvor. In unserem Pueblo sind von hundert Familienvätern dreißig gestorben, die Hälfte im Kampf und die andere an Hunger und Not. Und was ist jetzt? Mexiko ist frei, oder nicht? Wir haben die Spanier aus dem Land gejagt, wir haben weniger, als wir je hatten, aber ihr Männer schleicht weiter bei Nacht und Nebel herum und kämpft gegen alles und jeden, so dass eure Mütter schlaflos um die Häuser streichen und weinen müssen wie die Llorona.«
    »Das glaubst du doch selbst nicht, was du da sagst!« Miguel warf sich in die Brust. »Natürlich ist Mexiko nicht frei. Zwar gehört es keinem fetten König am anderen Ende der Welt mehr, aber uns, denen man es weggenommen hat, gehört es deshalb noch lange nicht. Im Grunde sind die Kreolen, die es sich geschnappt haben, sogar schlimmer als der König. Leben wir vielleicht wie Menschen, oder leben wir wie Vieh? Sprechen wir unser Nahuatl miteinander oder ihr verdammtes Spanisch?«
    »Wie sollen wir wohl Nahuatl sprechen, wenn du kaum drei Sätze darin zusammenbekommst?«, entgegnete die Mutter.
    »Und ist das meine Schuld? Hat man mir nicht eingebleut, wer sich aus dem Elend erheben will, hat Spanisch zu sprechen?« Miguels Gesicht war vor Erregung gerötet, doch während er Atem holte, verzog er den Mund zum Lächeln und tätschelte der Mutter den Arm. »Na komm, Mamacita, hören wir damit auf. Du schau lieber auf deine Karten, wenn du nicht willst, dass ich schon wieder gewinne.«
    »Aufhören soll ich!« Entrüstet schüttelte die Mutter ihn ab. »Eine Mutter soll sich um ein Kartenspiel scheren, derweil ihr Sohn den Aufrührer spielt und den Hals schon in der Schlinge trägt?«
    Benito hatte bisher kaum zugehört und gewünscht, die anderen würden ihn und sein Mädchen allein lassen. Das Gerede von Hälsen und Schlingen aber rüttelte ihn auf. Jedes Mal tat es das, es schlug ihm wie eine Faust in den Magen. Nur mit Mühe wurde er der Übelkeit Herr. »Für mich gibt es kein Spiel mehr«, murmelte die Mutter. »Seit ich in nicht einmal einem halben Jahr euren Vater und euren Paten verlor, weiß ich, dass auf jedem Fest schon der Tod zu Gast ist. Und diesmal ist es mein eigener Sohn, der ihn einlädt.«
    Aus Miguels Gesicht verschwand der heitere Ausdruck. »Ich habe geglaubt, du wolltest Gerechtigkeit«, erwiderte er.
    »Ja, das wollte ich.« Die Mutter wich seinem Blick nicht aus. »Aber ich bringe nicht noch ein Opfer dafür. Ich habe so viel verloren, dass mein Herz nie mehr heil wird, und wenn ich jetzt noch dich geben soll, dann will ich nicht mehr leben.«
    Der Raum verdunkelte sich so schnell, dass man den Wert der Karten nicht mehr entziffern konnte. Die Nacht zog herauf, und es würde bald regnen, sie mussten den Fensterladen schließen. Benito sah seinem Mädchen zu, das behende aufsprang, die Lampe vom Herd nahm und sie angezündet in ihre Mitte stellte. Die Lampe rußte und blakte, ihr Licht zeichnete blasse Schatten auf des Mädchens Gesicht. Ihm war so seltsam zumute, als wäre er in zwei Hälften geteilt. Über den Rücken liefen ihm die Schauder der Kindheit, der schwarzen Erinnerungen und der Alpträume. Der Dia de los Muertos, der als heitere Ehrung der Toten gedacht war, schmeckte in seiner Familie bitter wie ungesüßter Kakao. Zugleich aber hing er an jeder Bewegung des Mädchens und war trotz der Schauder glücklich, weil gleich der Regen wie mit Donnerschlägen aufs Dach trommeln und sie in der Hütte einschließen würde, weil noch endlose Stunden vor ihm lagen, in denen er hier sitzen und ihr zusehen konnte, weil ein neues Leben begann, das von der alten Bitterkeit nichts wusste.
    »Wenn wir aufhören für die Gerechtigkeit zu kämpfen, verraten wir die Toten«, sagte Miguel.
    »Ach, was verstehst du schon davon?«, fuhr die Mutter ihm über den Mund. »Das Leben, solange es jung ist, glaubt doch immer, es sei vor der Sterblichkeit gefeit.«
    Benito wollte etwas sagen, doch jäher Lärm ließ ihn verstummen. Nicht vom Dach kam er, wo sie ihn erwarteten, und es war auch nicht das Prasseln des Regens, sondern das dumpfe Hämmern von Fäusten auf Holz. Es kam von der Tür. Die Mutter schrie auf. Mit zwei Sätzen war Miguel beim Fenster und versuchte sich hinauszuschwingen, doch das Fenster war viel zu klein, und gewiss war das Haus umstellt. Von neuem hämmerten die Fäuste an die Tür, dass das Holz im Rahmen zitterte. Mit bleischweren Gliedern stemmte sich Benito in die Höhe. Widerstand war zwecklos;

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