Im Land der gefiederten Schlange
sie trotzdem. Auch wenn ich ihnen keine Pistolenmündung in den Nacken drücke.«
»Ja, mein Freund, das tun Sie«, erwiderte Ferrante. »Sie sind Soldat. Und jetzt erzählen Sie.«
Ehe Benito abwehren konnte, schüttelte der Coronel den Kopf. »Das war ein Befehl, Alvarez. Und das eine Mal gehorchen Sie mir. Wir sehen uns ohnehin nicht wieder, also tun Sie mir den Gefallen.« Er schenkte den Becher wieder voll und gab ihn Benito. »Versuchen Sie’s noch mal. Wenn die Schwelle überwunden ist, hilft es.«
Benito versuchte es, musste gegen einen Würgereiz kämpfen, stellte dann aber fest, dass Ferrante recht hatte.
»Und jetzt raus mit der Sprache.«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »In dem Land, in dem wir leben, sehen vermutlich die meisten Kinder mit an, wie Menschen einander töten. Aber vielleicht sind manche eben nicht stark genug und verlieren ein Stück weit den Verstand.«
»Was haben Sie mit angesehen, Alvarez?«
»Eine Hinrichtung.«
»Einen Soldaten, der füsiliert wurde?«
Benito schüttelte den Kopf. »Einen Verbrecher, der erhängt wurde.«
»Wofür?«
»Mord«, sagte Benito.
»Wie alt waren Sie?«
»Keine Ahnung. In diesem Alter eben, in dem man brüllend seiner Mutter am Rock klebt und nicht loszureißen ist, bis man eins draufkriegt und irgendwo abgestellt wird.«
Der Coronel klopfte ihm den Rücken. »Sie waren ein Brüllbalg mit erstaunlichem Gedächtnis. Erinnern Sie sich auch an den Gehenkten? Haben Sie den gekannt?«
Benito blickte auf. »Ja«, sagte er, entschlossen, das letzte Wort gesprochen zu haben.
Gedankenverloren füllte der Coronel noch einmal den Becher, trank eine Hälfte und ließ Benito die andere. Dann entnahm er seinem Tornister eine der flachen Blechbüchsen, in denen Nachrichten transportiert wurden. »Hier, das nehmen Sie morgen mit und hinterlegen es wie üblich bei der Medica Martina. Alle weiteren Anweisungen erhalten Sie dort. Und wenn Sie einen Rat wollen, lassen Sie sich von der feurigen Medica eine Nacht lang nach Strich und Faden die Dämonen austreiben.«
»Martina von Schweinitz mag die trostreichste Seele der mexikanischen Armee sein«, erwiderte Benito, »aber sie ist mit einem prächtigen Kerl verlobt und wird ihn demnächst heiraten.«
»Ach, hören Sie doch auf – das kratzt die Medica nicht, und Sie lassen doch sonst nichts anbrennen. Um ein Haar hätte ich gesagt, Sie haben kein Herz für die Liebe, so wie Sie keinen Magen fürs Töten haben, aber das stimmt nicht, oder? Mindestens einmal waren Sie bis über Ihre hübschen Ohren verliebt. Damals, in Veracruz, als Sie mir ständig Maultiere gestohlen haben, um unter dem Fenster einer Schönen Serenaden zu singen.«
Ohne es zu wollen, hatte Benito begonnen am Halfter des Dunkelfuchses zu hantieren, den Kehlriemen zu öffnen und das Tier unter dem Hals zu streicheln. »Es würde Sie den größten Teil Ihres Tequila-Bestandes kosten, mir meine Lebensgeschichte aus der Nase zu ziehen«, sagte er. »Morgen früh wären wir beide nicht zu gebrauchen, hätten uns vor unseren Leuten zu Hanswursten gemacht, und obendrein wären Sie restlos enttäuscht.«
»Sie mögen ja Probleme mit dem Töten haben«, versetzte Ferrante, »aber lügen können Sie, dass mir die Tränen den Rücken runterlaufen. Ich muss also sterben, ohne den Namen des Mädchens zu erfahren, das Ihr kaltes Herz berührt hat. Finden Sie das nett?«
»Nein«, sagte Benito. »Wir Amarantfresser sind nicht nett – wir haben kalte Herzen und opfern Menschen.«
»Dann scheren Sie sich zum Teufel«, rief der Coronel und verpasste seinem Rücken einen festen Hieb. »Aber den Gaul nehmen Sie mit. Ich habe Sattel und Zaum im Zelt, das bekommen Sie auch noch von mir und dann keinen Hosenknopf mehr.« Als Benito nichts sagte, nur fassungslos auf das feine Adernetz um die Nüstern des Pferdes starrte, lachte er. »Es ist eine wahre Crux, Ihnen eine Freude zu machen, aber es sieht aus, als wäre es mir geglückt. Nein, versuchen Sie nicht, sich zu bedanken. Verdient ist verdient. Tun Sie mir nur einen Gefallen und geben der Stute keinen Namen in Ihrem Kauderwelsch von Sprache. Sie ist ein englisches Vollblut, sie würde sich schämen.«
Die Nacht war voll Zauber. All das Getier, das im Dunkeln auf Beutefang ging, erfüllte die Luft mit dem Streichen von Schwingen, dem Tappen weicher Pfoten, dem Flüstern, Rascheln und Zischen geheimer Verständigung. Benitos Hand lag auf dem Hals des Pferdes, fühlte Blut, das unter seidigem Fell
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