Im Land der gefiederten Schlange
sie würden den Männern öffnen müssen, wenn sie nicht wollten, dass sie ihnen die Tür einschlugen.
4
Während der Regenzeit starben noch mehr Kinder an Seuchen als sonst. Auch ihr Hannes war während der Regenzeit gestorben, ihr kleines Glück, das Lied in ihr, das nie gesungen wurde. Die Angst ließ Marthe nicht los. Ihr Vetter Fiete schickte seine Kinder – drei Söhne und zwei Töchter, auf die er so stolz war, dass er hätte platzen können – auf Gepäckmärsche durch die Zypressenwälder, wobei sie zum Geschrei der Affen »Das Wandern ist des Müllers Lust« schmettern mussten. »Abhärtung ist alles«, versicherte er der Familie. »Meine Schar wird nicht krank, weil ihre Leiber gestählt sind. Ihr solltet es mit euren blassen Geistern auch so machen.«
Tatsächlich waren Fietes Kinder rotwangig, rundlich und unverschämt gesund. Dennoch wäre Marthe lieber gestorben, als Katharina in den Wäldern mit ihren himmelhohen Bäumen, unkenden Kröten und zischelnden Reptilien herumstapfen zu lassen – ob in der Regenzeit oder jemals sonst. Sie behielt sie im Haus. In all dem Bedrohlichen, das sie umringte, erschien Marthe ihr Haus ein wenig wie das Schiff, mit dem sie hergekommen waren, eine Muschel aus der Heimat, die sie schützend einschloss, derweil die Wellen sie umtosten.
In ihrer liebevoll möblierten Kinderstube unter der Obhut der getreuen Lise war ihr Schatz in Sicherheit. Katharina war zehn und hätte im Grunde kein Kindermädchen mehr gebraucht, doch Peter hatte darauf bestanden, die resolute Hamburgerin zu behalten, und Marthe war darüber froh. Zwar verspürte sie zuweilen eine schmerzhafte Eifersucht auf Lise, weil diese Katharina womöglich näher stand als sie, aber die Dinge waren nun einmal, wie sie waren. Marthe hatte alle Hände voll damit zu tun, den großen Geschäftshaushalt zu führen und der Familie ein Stück Heimat zu erhalten. Somit war es gut, dass es die Lise gab.
Hätte Hannes gelebt, wäre es anders gewesen, begehrte eine Stimme in ihr auf. Scharf brachte sie sie zum Schweigen. Hannes gab es nicht mehr. Dass sie seine Stube unangetastet ließ, dass sie zuweilen hinaufschlich, dem Schaukelpferd über den Kopf strich und die Wiege bewegte, war sträflicher Unsinn, für den sie sich schämte. Die Gegenstände zu bewahren, die sie an ihren kleinen Jungen und an die glücklichsten Wochen ihres Lebens erinnerten, brachten ihr weder ihren Jungen noch das Glück zurück.
Ihr blieb Katharina. Auf einmal überfiel sie Sehnsucht nach ihr. Einst hatte Marthe geglaubt, sie werde nie darüber hinwegsehen können, dass Katharina nicht hübsch war, aber darin hatte sie sich geirrt. Katharina war recht so, wie sie war. Blitzgescheit war sie, lernte schneller als Fietes Rabauken, Christophs Zwillinge und sogar Traudes Stefan. Gewiss, keck und vorlaut war sie auch, aber Marthe hätte sie weder gegen Traudes kreuzbrave Helene noch gegen Christophs maulfaule Josephine eintauschen wollen – und gegen Fietes Bauerntrampel schon gar nicht.
Marthe legte den Tischläufer, den sie im blau-weißen Zwiebelmuster bestickte, beiseite und sah auf die Standuhr. Schon sechs, nicht lange, und die Sanne würde zum Abendessen rufen. Auch Peter musste jeden Augenblick nach Hause kommen, obgleich es bei ihm in letzter Zeit oft später wurde. Vor einem Jahr hatte er eine neue Geschäftsidee entwickelt und ging ihr mit einer Leidenschaft nach, die Marthe nicht an ihm kannte. »Jeder Mann in der Siedlung beklagt sich, dass er den schrecklichen Pulque trinken muss und davon Kopfweh bekommt«, hatte er erklärt. »Überhaupt, diese Pulquerias, die einen vor der Theke in Rinnen pinkeln lassen, verdienen sich goldene Nasen, weil man bei der Hitze vor Durst fast verreckt.«
Und weil das Leben hier keiner nüchtern erträgt, hatte Marthe im Stillen hinzugefügt. Ihr Mann, der mit einem Geschäftssinn gesegnet war, den ihm kein Mensch zugetraut hätte, hatte Kapital flüssiggemacht und die erste Brauerei von Veracruz begründet. Mit Klauen und Zähnen hatte Marthe sich dagegen gewehrt. Solange sie Handel trieben, vermochte sie den Glauben aufrechtzuerhalten, sie seien eben Hamburger Kaufleute mit einer Zweigstelle in der Neuen Welt und würden eines Tages zurückkehren. Eine Brauerei aber war ein Herstellungsbetrieb, und wer etwas herstellte, der blieb im Land.
Für gewöhnlich fiel es Marthe leicht, ihren Mann nach ihrem Willen zu lenken, in dieser Frage aber stellte er sich stur. Er brauche etwas für sich,
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