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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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Adresse. Das Haus, in dem Kathi wohnte.
    Während sie fieberhaft versuchte in alldem einen Sinn auszumachen, ertönten Schritte im Gang. Marthe hasste es, in einem Patiohaus zu leben, in dem von beiden Seiten Menschen in ihr Zimmer dringen konnten – vorn mochte die Frau noch stehen, und von hinten nahte ein Mitglied der Familie, und sie saß zwischen ihnen in der Falle. Wenn die Franzosen das Haus betraten, erkannte man es am affektierten Gelächter, aber der, der jetzt kam, schwieg. Es war Peter.
    »Guten Abend«, sagte er.
    »Ich brauche Geld«, sagte sie.
    Er hängte seinen Hut an den Nagel. Es war ein breitkrempiger mexikanischer Hut, wie sie sie vor der Invasion der Franzosen reihenweise verkauft hatten. »Wozu?«, fragte er.
    »Immerhin ist Weihnachten«, erwiderte sie und begann mechanisch den Tisch zu decken, wie sie es immer tat, wenn er nach Hause kam. Salzfass, Wasserkrug, zwei Teller. War der Mensch nicht seltsam, dass er die Rituale seines Lebens weiter vollzog, auch wenn dieses Leben entleert war? Sie wollte an ihm vorbei in die Küche, um das Essen zu holen, Brot und Butter, kalte Grütze, die die treue Sanne vorbereitet hatte, aber er hielt sie auf.
    »Wir brauchen kein Geld zur Weihnacht«, sagte er. »Wem willst du denn etwas kaufen? Wir feiern drüben bei Hermann, zu bringen brauchen wir nichts. Es wird auch nicht viel geben.«
    Auf einmal fragte sie sich, warum sie all dies alleine trug, warum sie es ihm nicht ins Gesicht schleuderte. Wovor hatte sie Angst – noch immer davor, ihn zu verlieren? Oder davor, den letzten Rest der Wahrheit auszusprechen und zuzusehen, wie er daran zerbrach? Vielleicht bringt er mich dafür um. Sie sah ihn an, den müden grauhaarigen Mann, dem seine Stattlichkeit regelrecht von den Knochen gefallen war, und lachte auf. »Ich werde erpresst«, sagte sie. »Seit Jahren schon. Von einer verkommenen Weibsperson, die die Anna Alvarez kennt und Kathi die Wahrheit sagen will, wenn ich nicht zahle.« Peter lehnte sich gegen die Tür. Wie immer, wenn Kathis Name fiel, zuckte ein Muskel in seinem leblosen Gesicht. »Das willst du wohl nicht«, fuhr Marthe fort. »Dass unsere Kathi damit leben muss, kannst du nicht wollen.«
    »Und was verlangst du von mir?«, fragte er. »Ich habe kein Geld. Hermann und ich haben gerade die Bilanz geprüft, sie ist noch schlechter als die letzte. Willst du, dass ich die Weibsperson umbringe, wie ich den Sohn der Alvarez beinahe umgebracht hätte?«
    »Ich habe dir nicht gesagt, du sollst auf ihn schießen!«, schrie sie ihn an. »Du hast es getan, schieb es nicht auf mich.«
    »Ich habe nicht getroffen«, erwiderte Peter. »Und ich habe meinem Schöpfer viele Male dafür gedankt. Der Junge war kaum älter als zwanzig.«
    »Aber wessen Sohn er war, weißt du, oder hast du das vergessen?«
    »Wie könnte ich?« Sie hatte Peter nie boshaft grinsen sehen. Vor einer Ewigkeit, als sie sich in ihn verliebt hatte, war das ein Teil ihrer Liebe gewesen: Er hat keine Bosheit an sich. Keine Kälte, nichts Verschlagenes. Sie hatte geglaubt bei ihm zu finden, was sie verloren hatte, ein Heim und Geborgenheit. Das Grinsen, das er ihr jetzt sandte, war boshaft und kalt. »Ich werde nie vergessen, wessen Sohn er war, aber das macht einen Menschen nicht aus. Zu wissen, wessen Tochter sie war, hat uns nicht daran gehindert, Kathi zu lieben.« Das grausame Grinsen rutschte ihm wie eine Maske vom Gesicht. »Haben wir geglaubt, wir könnten Kathi halten, indem wir Menschen totschießen? Dann haben wir uns geirrt. Ich schieße auf niemanden mehr, auch nicht auf deine Weibsperson. Soll sie Kathi die Wahrheit sagen. Dass ich sie liebe, ist auch eine Wahrheit. Welche die ihre ist, muss Kathi entscheiden.«
    Marthe wollte ihn beschwören, er solle in sich gehen und ihrer Tochter kein Wissen aufbürden, an dem sie zerbrechen musste, doch in diesem Augenblick versuchte jemand die Tür zu öffnen, so dass Peter einen Satz nach vorn machte. Draußen stand Stefan. »Entschuldigt«, murmelte er. »Ich habe vergessen zu klopfen.«
    »Keine Ursache. Was gibt es, mein Junge?« Peter behandelte Stefan noch immer wie den Schwiegersohn, als den er ihn so gern gesehen hätte. Und Marthe auch. Stefan war ein Schwächling, aber das waren die meisten Männer, und Kathi war stark genug für zwei. Er war ein guter Kerl, er liebte Kathi und hätte sie der Familie zurückgebracht – war das nach allem, was sie durchlebt hatten, nicht genug?
    »Es ist meine Mutter«, stotterte Stefan.

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