Im Land der gefiederten Schlange
solchen Zuständen etwa zurück? Willst du, dass wir uns alle Schlangenhäute und Federn umhängen, Heuschrecken essen und auf Götzenaltären Kinder schlachten? Oder willst du, dass dieses Land in den Genuss des Fortschritts kommt, dass es hier Eisenbahnen und christliche Schulen gibt, dass wir die Menschen lehren, wie man sich sauber hält und wie seine Kranken versorgt?«
Ja, das will ich, wollte sie sagen, weil sie es wirklich wollte und weil der Abstand zwischen ihnen sie schmerzte. Stattdessen sagte sie: »Du klingst wie mein Onkel Fiete, wenn er Volksreden hält.«
»Und weißt du, wie du klingst?« Er sprang auf und trat die Flasche um, dass goldener Wein über die Erde rollte. »Wie eine verfluchte Anarchistin.« Ohne sich nach ihr umzudrehen, ging er und löste die Zügel der Pferde vom Baum. »Lass uns aufbrechen. Mir ist der Tag verdorben.«
Schweigend half er ihr in den Sattel, stieg selbst auf und trieb das Pferd in den Schritt. Schweigend ritten sie durch die verblassende Sonne, an spielenden Kindern vorbei und unter den duftenden Früchten der Pfefferbäume hindurch, bis Katharina es nicht länger ertrug. »Ich liebe dich!«, rief sie ihm zu. »Ich will mich nicht mit dir um Worte streiten, mir sind die ganzen Worte einerlei!«
Er zügelte mit einem Ruck sein Pferd, beugte sich zu ihr und riss sie an sich, dass sie aus dem Sattel glitt. Valentin aber hielt sie in den Armen, setzte sie auf den Widerrist seines Pferdes und küsste sie. »Meine Liebste. Meine mexikanische Zauberin. Ich will mich auch nicht um Worte streiten, ich will nur irgendwo mit dir allein sein, wo uns die ganze Welt in Frieden lässt. Wenn jetzt die Männer aus der Heimat kommen, ist gut möglich, dass ich befördert werde und meine eigene Einheit erhalte – und dann werde ich nach Michoacán geschickt, bis dem Teufel Romero der Garaus gemacht ist. Ich wäre froh, den Satan in die Finger zu bekommen, aber mir graut davor, ohne dich zu sein.«
»Mir auch.«
»Schenkst du mir diese Nacht? Im Hotel Iturbide, nicht bei deinen Freunden?«
Sie konnte nur nicken und klammerte sich an seinen Hals. Wenn dir etwas geschieht in diesem Michoacán, wenn du nicht wiederkommst, dann will ich nicht mehr leben. Er hielt sie ebenso fest. Ihre Herzen rasten.
44
Als am Morgen die Frau vor der Tür stand, wäre Marthe um ein Haar in Gelächter ausgebrochen. »Kommen Sie wieder, um mich wegen meiner Tochter zu erpressen?«, schrie sie sie an. »Wissen Sie nicht, dass meine Tochter fort ist, dass es nichts mehr zu erpressen gibt?« Erst als die Frau ihr unverdrossen weiter die Haarsträhne mit dem blauen Band entgegenhielt, bemerkte sie, dass sie Deutsch gesprochen hatte. Das brachte sie zur Besinnung. Nein, sie wollte noch immer nicht, dass diese Frau mit Katharina sprach, sie hoffte noch immer, dass Katharina wiederkam. Auch wenn dies die zweite Weihnacht ohne sie sein würde, auch wenn ihre Briefe ohne Antwort blieben, auch wenn Stefans Versuch im September gescheitert war und sie sich mit sechsundfünfzig fühlte wie eine Greisin ohne Lebensziel. »Ich habe kein Geld«, sagte sie auf Spanisch zu der Frau. Sie hätte sie ins Haus bitten können, in das eine Zimmer, in dem sie mit Peter wohnte, sie hätte ihr zeigen können, dass sie von der Hand in den Mund lebten, weil die Liberalen alle Fremden in einen Topf warfen und nicht mehr bei ihnen kauften und die Kaisertreuen jeden mieden, der sich nicht zu dem Habsburger bekannte. Als letzte Kunden waren ihnen ihre Landsleute geblieben, und ohne Claudius von Schweinitz hätten sie ihr Geschäft längst verloren.
»Du kannst mir Geld in mein Haus bringen.« Die Frau verzog den Mund zu einem Lächeln, das von Besuch zu Besuch hässlicher wurde. Wenn Verlogenheit und Sünde sich wirklich in Gesichter zeichneten, war sie ein leuchtendes Beispiel dafür. Aber was ist mit uns?, fragte sich Marthe. In den Spiegel, an dem sie vorbeischlich, nachdem die Frau ihr eine Karte gegeben hatte und gegangen war, wagte sie nicht zu blicken.
Der Spiegel hing dort, seit das Glas vor der Daguerreotypie durch den Steinwurf zerbrochen war. Das Bild trug Marthe bei sich. Sie hatte sich dafür eigens eine Tasche auf der Innenseite ihrer Jacke eingenäht und sah es manchmal an, wenn die Sehnsucht nach Kathi sie übermannte.
Ihr Blick fiel auf die Karte. Wollte die Frau sie zum Narren halten? Die Adresse, die in Druckbuchstaben notiert war, kannte Marthe so gut wie keine andere. Es war Martina von Schweinitz’
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