Im Land der gefiederten Schlange
als Mädchen gestanden und ins Wasser hinunter geträumt hatte. Ich bin nicht neidisch, stellte sie verwundert fest. Ich will nicht tauschen. Wenn meine Kathi zurückkommt und ihren Stefan heiratet, wenn wir wenig Geld haben und nur ein Zimmer oder zwei und wenn meine Kathi mir ein Enkelkind schenkt, dann will ich nie mehr hadern. »Das ist schön, Traude«, sagte sie. »Es freut mich für Helene und dich.«
»Nein, es freut dich nicht!« Ein Hustenanfall zerstückelte Traudes Zorn. »Dich hat noch nie etwas für mich gefreut, du hast mir nie etwas gegönnt. Deine Familie hat immer meiner die Schuld an dem, was geschehen ist, gegeben, auch wenn ihr es nicht ausgesprochen, sondern mit mir und meinen Kindern am Weihnachtsbaum gesessen habt.«
Und du hast immer uns die Schuld gegeben, wollte Marthe erwidern, aber auf einmal kam ihr das unsäglich falsch vor. Vor ihr verglühte ein Leben, würde gleich einfach nicht mehr da sein, und sie stritten um etwas, das dreißig Jahre zurücklag und das keine von ihnen rückgängig machen konnte. Peters Worte fielen ihr ein: Dass ich Kathi liebe, ist auch eine Wahrheit. »Traude«, sagte sie und packte die knöcherne Hand der Sterbenden, »was immer wir getan haben, welche Fehler wir begangen haben – wir haben unser Leben miteinander verbracht. Unser Leben war auch Weihnacht und Hochzeit und Zusammenrücken in der Not, es war Lästern über Fietes Geschichten, Festessen aus Resten und Freude über die Kinder.« Sie zog das Bild unter der Jacke hervor und schob es Traude in die freie Hand. »Das ist auch eine Wahrheit, Traude. Nicht nur das Entsetzen.«
»Deine Kathi«, krächzte Traude, als hätte Marthe nichts gesagt. Auch auf das Bild achtete sie nicht. »Du willst sie retten, deine Kathi, richtig? Mein Stefan soll sie retten. Er hat sie ja schon einmal gerettet, als er dem indianischen Teufel weitergesagt hat, was ich ihm erzählt habe. Und jetzt soll er sie retten, indem er sie heiratet?«
Marthe nickte.
»Sag den beiden, sie haben meinen Segen. Das habe ich ihr seit Wochen sagen wollen, aber Katharina Lutenburg hatte es ja nicht nötig, einer sterbenden Tante Respekt zu erweisen. Ihr seid diesem Mädchen nie mit Härte begegnet, deshalb hat das schlechte Blut in ihr die Oberhand gewonnen, und sie ist euch davongerannt.«
Und du bist deinen Kindern mit so viel Härte begegnet, dass sie sich vor dem Leben fürchten, dachte Marthe, und eine Welle von Liebe zu Katharina überrollte sie.
»Um ihretwillen gebe ich ihr meinen Stefan nicht.« Traudes Stimme wurde schwächer, die Pausen zwischen den Worten größer. »Und damit du’s weißt: Ich habe für euch gelogen. Nachdem ich erfahren habe, wie krank das Gemüt meines Jungen ist, habe ich ihm erzählt, nicht das, was er von mir weiß, sondern eure Räuberpistole von deinem Bruder und seinem Liebchen sei wahr. Ich hab’s für Stefan getan. Hätte er einen Vater gehabt, er wäre gewiss nie dem Verderben anheimgefallen.«
»Kathi wird ihm guttun«, versicherte Marthe. Nur einen Herzschlag lang wünschte sie, Kathi hätte einen Mann gewählt, dessen Kraft der ihren ebenbürtig war.
»Das ist alles, was ich von ihr verlange«, presste Traude mit letzter Anstrengung heraus. »Dass sie ihn rettet. Hätte man mir nicht zugetragen, in welchen Abgrund dieser Messerschmidt meinen Jungen getrieben hat, ich hätte nie erlaubt, dass die Tochter eines Mörders ihn bekommt.«
»Ach, Traudchen«, murmelte Marthe, der gleichgültig war, was Traudes Reden bedeutete. »Traudchen, du erlaubst ja gar nichts mehr.« Dann verstummte sie. Das Schweigen gehörte dem Tod, der hinzutrat, sich nahm, was ihm zugefallen war, und damit verschwand. Er machte Marthe keine Angst, sondern überließ allen Raum der Traurigkeit. Sie blieb bei der Verstorbenen sitzen, bis deren Hand in der ihren kalt geworden war. Dann stand sie auf und rief Traudes Kinder Helene und Stefan, die eingeschüchtert an der Tür standen und in untröstliches Weinen ausbrachen.
Am folgenden Tag, dem Morgen vor dem Heiligen Abend, suchte Marthe Claudius von Schweinitz auf. Der Baron logierte in einem Luxushotel namens Iturbide, sooft er für längere Zeit in der Stadt war. Dies hatte sie von Christoph erfahren, der wieder einmal froh war, wenn andere als er sich um alles kümmerten. Sie wurde sofort empfangen. Die Suite, die der Baron bewohnte, hätte sämtliche Hartmanns und Lutenburgs beherbergen können.
Er war bereit zum Aufbruch, wollte die Feiertage bei seiner Frau in
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