Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
Vom Netzwerk:
»Sie will dich sprechen, Tante Marthe.«
    »Dann ist es so weit?«, fragte Peter und legte Stefan die Hand auf die Schulter. »Arme Traude. Gott gebe dir und deiner Schwester Kraft.«
    Marthes Herz begann zu hämmern, und ihre Hände wurden kalt. Sie war ein bodenständiges Hamburger Mädchen gewesen, das sich nicht leicht aus der Fassung bringen ließ, doch bei der Ankunft in Mexiko war ihr die Angst in die Glieder gefahren, und seit jenem Morgen nach Christophs Hochzeit graute ihr davor, dem Tod ins Antlitz zu sehen. Was Traude ihr zu sagen hatte, wollte sie nicht hören, aber hatte sie eine Wahl? An den Männern vorbei schob sie sich in den Gang, verließ ihren Teil des Hauses durch die Seitentür und ging über den Hof zu dem Flügel, in dem Helenes Familie samt Traude lebte.
    Seit dem Spätsommer hatte Traude krank gelegen. Es war ein Herzleiden, hieß es, dem kein Arzt mehr beikam. Vielleicht war es auch pure Erschöpfung. Das Leben saugt uns aus, dachte Marthe. All die Kraft, auf die wir vor Stolz platzen, wenn wir jung sind – am Ende ist sie völlig verbraucht. Traude war immer weniger geworden und aus ihrem Bett nicht mehr aufgestanden, und die ganze Zeit über hatte sie nach Kathi verlangt. Wie weit musste sich Kathi von der Familie entfernt haben, wenn sie nicht einmal dem Ruf einer Sterbenden folgte?
    Kalkweiß und wie geschrumpft lag Traude in den Kissen. Der Raum, den die Familie sich zum Schlafen teilte, weil die anderen Kammern der Franzose besetzte, war abgedunkelt. Traude begann zu sprechen, sobald Marthe durch die Tür trat. »Bist du also allein gekommen?«, fragte sie, die Stimme matt, doch noch immer im Ton der zu kurz Gekommenen. »Ich hätte erwartet, dass du deinen Bruder mitbringst.«
    »Weshalb hätte ich Christoph mitbringen sollen?«
    »Tust du das nicht dein Leben lang? Wann immer es ernst wird, hast du ihn an deiner Seite, deinen Ritter von der traurigen Gestalt. Weißt du, was ich mir manchmal dachte? Vielleicht wäre ja deine Ehe ein Erfolg geworden ohne den ewigen Bruder zwischen euch, vielleicht hättet ihr sogar noch ein Kind bekommen. Verrätst du mir eins, bevor ich all den Jammer hinter mir habe? Wofür hasst du deinen Mann eigentlich so? Dafür, dass er deine Schwester wollte, nicht dich? Oder dafür, dass er dich, weil du ihm die Schwester nicht vergeben konntest, mit ein paar Flittchen betrogen hat?«
    Marthe sagte nichts, obwohl Traude eine Pause machte. Jedes Wort im Raum schien beschwert, als hätte der Tod, der bereitstand, der Luft Gewicht verliehen.
    »Männer betrügen alle. Sie sind wie Kinder – was sie bei ihrer Frau nicht bekommen, holen sie sich woanders, verzichten gibt’s für sie nicht. Eine Frau kann froh sein, wenn ihr Mann dabei diskret bleibt wie deiner, wenn er sich manierlich benimmt und nichts Widerliches tut. Dein Peter war ein feiner Mann. Einer, der seiner Frau ein schönes Leben geben wollte. Die Brauerei hat er aufgebaut, um mit dir neu anzufangen. Aber du hast ja nichts davon gesehen. Nur Kathi und deine Geschwister. Die Llorona, die du Nacht für Nacht gehört hast, das ist deine gottverfluchte Schwester, oder nicht?«
    Marthe musste die Waschschüssel vom Schemel räumen und sich niedersetzen. In all den Jahren war es ihr gelungen, diesen Themen auszuweichen, aber Traude, die ihre letzten Worte sprach, vermochte sie nicht den Mund zu verbieten. »War es das, was du mir sagen wolltest?«, fragte sie leise.
    Traude versuchte den Kopf zu schütteln, war dazu jedoch bereits zu schwach. »Ich wollte diejenige sein, die es dir mitteilt«, krächzte sie. »Die Freude wollt ich mir nicht nehmen lassen, auch wenn’s das Letzte ist, das ich tu. Du bist immer so sicher gewesen, dass es deine Kathi sein würde, die in die Heimat zurückgeht. Aber die ist es nicht. Es ist meine Helene. Sigmunds Bruder ist endlich verblutet, und von Schweinitz gibt seiner Schwester das Geld, um zurückzugehen. Der Schweinitz mag ja die Äffin geheiratet haben, aber seine deutsche Familie vergisst der nicht. Sigmund und Helene gehen mit. Dafür habe ich alles getan, dafür habe ich meine Tochter einem saftlosen Kretin gegeben, und jetzt zahlt es sich aus. Meine Enkeltöchter werden Hamburger Mädchen sein, und ich erfahre in meinem elenden Leben einmal Gerechtigkeit.« Sie atmete tief ein, und obwohl ihr Atem rasselte, klang tiefe Befriedigung daraus.
    Marthe schloss die Augen und sah die Trostbrücke über den Mündungsarm der Alster vor sich, an deren Brüstung sie

Weitere Kostenlose Bücher