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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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wehen und sandte ihrem Mann einen Gruß. Auch wenn sie nicht wusste, wo er sich samt all der Liebe, die er für sie und ihr Kind gehegt hatte, befand, fühlte sie sich ihm näher, wenn sie auf den blauen Zackenkamm der Gipfel und den Himmel zustieg. Als sie Carlos geheiratet hatte, war sie für ihre Güte gepriesen worden. Sie werde eine junge Witwe sein und noch einmal heiraten können, hatte ihr der Arzt versichert, denn der Verletzte werde es nicht mehr lange machen. Sollte ich nicht dankbar und glücklich sein, Carlos? Mir war nichts versprochen, und ich bekam fünfzehn Jahre. Anderen ist ein Leben versprochen, und sie bekommen nichts. Ich bin dankbar und traurig, mein Liebster. Du fehlst mir.
    Die Hütte der Grauen stand allein im Schutz einer Felsnase, das einzige Haus des Dorfes, das bei einem Aufstieg nicht zu sehen war. Als wäre die Graue nicht da, als würde sie nicht zum Dorf gehören, und so war es. Wer wollte, dass sie dazugehörte, konnte zu ihr hinaufsteigen, und die Übrigen störte sie nicht. Eine Hälfte der Hütte verschwand hinter einer gewaltigen Agave, die ihre meterhohen Blütenstände über das Dach hinausreckte. Agaven blühten nur einmal im Leben, und die Graue hatte Carmen erzählt, die ihre habe fünfunddreißig Jahre gebraucht, um ihre Blüten zu bilden.
    Carmen klopfte nicht. Die Graue hörte jeden Schritt. Als die Besucherin die Tür aufschob, hatte sie sich bereits aus ihrem Lehnstuhl gekämpft und kam ihr entgegen. »Doña Carmen«, sagte sie und ließ beide Mundwinkel zur Seite zucken. Das war alles Lächeln, was sie zustande brachte, und wer nicht wusste, dass es ein Lächeln war, der erkannte es nicht. »Danke, dass Sie mich besuchen.«
    »Ich bringe Ihnen Suppe und Sirup.«
    Wieder zuckte der Mund der Grauen. »Haben Sie Dank. Ich esse es später. Wollen Sie Tee?«
    Sie war zum Skelett abgemagert, ihr Gesicht ein mit Haut bespannter Totenschädel. Ihre Krankheit sitze im Magen, sagte der Arzt und verschrieb ein Tonikum nach dem anderen, weil die Familie ihn dafür bezahlte. Helfen würde keines. Die Graue konnte immer weniger essen und würde irgendwann verhungern. Vielleicht war es Schmerz, der ihr den Magen zerfraß, vielleicht war es Schuld. Trotz der Krankheit stand sie Tag für Tag auf und hielt sich und das kleine Haus blitzsauber. Sie trug ein blaues Kleid, das ihre Augen zum Leuchten brachte. Carmen fand sie immer noch schön. Ihre Wogen von Haar hatten die Farbe von Eisen. Die Alten im Dorf sagten, der Schrecken habe es ihr in einer Nacht grau gefärbt, wie er auch ihren Mund gelähmt hatte. Gesehen hatte es jedoch niemand, denn es war nicht hier geschehen.
    Carmen wollte keinen Tee. Sooft sie in diesem Haus war, wollte sie sofort wieder nach unten laufen und ihren Sohn in die Arme schließen. Dennoch blieb sie. Jahrelang, so erzählten die Alten, hatte kein Mensch mit der Grauen gesprochen, und als endlich jemand es tat, war es, als müsste sie die Worte neu lernen. »Lasst sie nicht wieder die Sprache verlieren«, hatte Benito sie gebeten. Carmen setzte sich.
    Die Graue hatte ein Feuer brennen, da sie immer fror. Sie hängte den Kessel darüber und füllte Teeblätter in eine Tonkanne. Jede ihrer Bewegungen vollzog sich schleppend. »Haben Sie Nachricht?«, fragte sie mit einer Spur von Hoffnung.
    »Einen Brief«, sagte Carmen. »Aber er ist bald acht Wochen alt. Es ist jetzt nicht leicht mit der Post.«
    »Geht es gut in der Hauptstadt?«, fragte sie beinahe stimmlos.
    Eine Welle von Mitleid erfasste Carmen. »In der Hauptstadt« sagte die alte Frau, weil sie sich nicht einmal erlaubte, den Namen des Menschen, den sie liebte, auszusprechen. »Ja«, antwortete sie schnell. »Es geht gut.«
    »Mehr wissen Sie nicht, nicht wahr?« Sie stellte einen Becher vor Carmen hin und goss mit zitternden Händen Tee ein. So sauber sie sich hielt, ihr Atem roch übel nach der Krankheit.
    Carmen schüttelte den Kopf. »Es ist ja Krieg. Es fällt Benito schwer genug, uns Nachricht zu senden, zumal ganz Querétaro in der Hand des Habsburgers ist und Briefe abgefangen werden.«
    Die Graue setzte sich wieder auf den Stuhl und schloss flüchtig die Augen. »Wann kommt Don Benito wieder her?«
    »Wenn der Krieg zu Ende ist«, erwiderte Carmen.
    »Und ist er bald zu Ende?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Carmen. »Die Franzosen ziehen ihre Truppen aus Mexiko ab, bis zum Ende des Jahres sollen alle Einheiten verschifft sein. Der belgische König, der den Habsburger stützte, ist zu

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