Im Land der gefiederten Schlange
Lied. Nur Benitos, der es ihr schickte, um ihr Lebewohl zu sagen. Hätte eine der Tauben sich auf der Brüstung ihrer Loge niedergelassen, sie hätte sich weder gewundert noch erschrocken, sondern die Hand nach ihr gestreckt.
Wenn eine Taube an dein Fenster kommt,
Behandle sie zärtlich, denn die Taube bin ich.
Erzähl der Taube von deiner Liebe, mein Herz,
Schmücke sie mit Blumen, denn ich bin es …
Ich lass dich nicht sterben, Benito. Was immer du getan hast oder tun wolltest, was immer du an mir versäumt und wie du mich verletzt hast, ich lass dich nicht sterben.
Wenn eine Taube an dein Fenster kommt,
Behandle sie zärtlich, denn die Taube bin ich.
Der Applaus, der losbrach, als der letzte Ton des Liedes
La Paloma
verklang, erschütterte die Mauern des Theaters. Der skurrilen Ansage hätte es nicht bedurft – auch so wussten die Zuschauer, dass sie ein Lied gehört hatten, das ihre Kinder noch hören würden und die Kinder ihrer Kinder noch immer. In seiner Loge drehte Kaiser Maximilian sich um und sah zu Katharina auf. Sein Gesicht war tränennass. »Haben Sie ein so schönes Lied je gehört, Fräulein Lutenburg?«
»Nein, noch nie«, sagte Katharina und stand auf.
Während der Applaus für
La Paloma
weiterbrandete, ging sie zur Tür der Loge. Oberst López verstellte ihr den Weg. »Setzen Sie sich wieder hin, Señorita. Sie können ja nichts tun.«
»Doch«, sagte Katharina. »Ich muss etwas tun. Ich kann nicht zulassen, dass dieser Mann getötet wird.«
Ehe die Vollbusige, die zum Glück kaum Spanisch verstand, sich einmischte, hatte der Oberst Katharina aus der Loge gezogen und verbarg sich mit ihr hinter dem Vorhang an der Tür. »Ich bitte Sie, bewahren Sie Ruhe«, sagte er. »Oder Sie bringen uns alle in Teufels Küche. Setzen Sie sich und warten Sie, bis Oberleutnant Gruber zurückkommt. Dafür, dass sie ein paar Blätter verteilt haben, kann er die Männer nicht zum Tod verurteilen.«
»Blätter?«, wiederholte Katharina benommen.
»Um der Heiligen Jungfrau willen, schweigen Sie. Sie wissen nichts von Blättern, haben Sie gehört? Setzen Sie sich ruhig auf Ihren Platz, und tun Sie so, als würden Sie Musik hören. Ich gehe und sehe, was ich in Erfahrung bringen kann.«
Noch immer benommen, tat Katharina, wie ihr geheißen. Das vorgesehene Programm konnte nicht fortgesetzt werden, weil die Zuschauer schreiend und trampelnd nach nur einem Lied, nach
La Paloma
verlangten. »Verrücktes Volk, diese Mexikaner«, sagte die vollbusige Gattin Lechner zur kleinen Gattin López, die kein Wort verstand. »Fremdländisch eben, wenn Sie begreifen, was ich meine? Dass ich mich daran gewöhnen werde, bezweifle ich.«
Ja, dachte Katharina. Verrückt und vermischt und so geliebt von den Göttern, dass die gefiederte Schlange uns den Pulque geschenkt hat, damit wir tanzen. Sie wusste, sie verlor den Verstand, aber es machte ihr nichts aus, weil das Leben sich nicht anders ertragen ließ.
La Peralta trat auf die Bühne und sang
La Paloma.
Was geschehen war, erfuhr sie von Oberst López, kurz bevor Valentin kam, um sie in die Kutsche zu laden und schweigend mit ihr nach Chapultepec zu fahren. Vier Männer waren verhaftet worden, weil sie während der Pause im Theater Flugblätter ausgelegt hatten. Auf den Flugblättern wurde verbreitet, Juárez habe das Land nicht verlassen, sondern stehe mit seiner Regierung im Norden, bereit, jederzeit in seine Hauptstadt zurückzukehren. Ein Rätsel sei, wie die Flugblätter ins Theater gelangt sein konnten, obgleich sämtliche nicht persönlich geladenen Gäste kontrolliert worden waren.
»Warum wollten die Männer das verbreiten?«, fragte Katharina.
»Weil es wahr ist«, erwiderte López. »Aber ich habe nichts gesagt.«
Da die Einheit der Garde, die die Männer ergriffen hatte, Valentin unterstellt war, oblag es ihm, das Urteil über sie zu sprechen. »Es tut mir leid«, sagte Oberst López. »Wir alle halten es für unziemliche Härte, die das Volk empören wird, aber Oberleutnant Gruber besteht darauf, sie zu hängen. Ich weiß nicht, in welchem Verwandtschaftsverhältnis Sie zu Señor Alvarez stehen …«
»Verwandtschaftsverhältnis?«, platzte Katharina, der alle Fäden den Händen entglitten, heraus. »Wie können wir denn verwandt sein – Benito ist ein Nahua.«
»Mit Verlaub«, erwiderte López, »ich hatte nicht vor, Sie zu beleidigen. Wenn ich Ihr Äußeres falsch eingeschätzt habe, bitte ich um Verzeihung, doch für mich ist ein Nahua
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