Im Land der gefiederten Schlange
strömten.
»Nein. Wir dachten, du und ich hätten einen anderen Vater als Xochitl und Miguel.«
»Und warum zum Teufel hast du Alleswisser nicht deine Mutter gefragt?«
Er drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war kalt. »Meine Mutter hat fünf Jahre lang nicht mit mir gesprochen, weil sie der Ansicht war, ich hätte meinen Bruder auf dem Gewissen.«
»Und dann?«
»Dann hat sie gesagt, sie habe von Miguel geträumt, der ihr befohlen habe, mir zu vergeben. Und dann habe ich sie gefragt.«
»Und sie?«
»Sie hat mir links und rechts ins Gesicht geschlagen und gebrüllt, wie ich dazu käme, dreckige Gerüchte über meine Mutter zu glauben und das Andenken meines Paten zu beschmutzen. Und dann hat sie mich hinauf zur Grauen am Berg geschickt.«
Wie schwer es ihm fiel, die Maske aufrechtzuerhalten, war ihm anzusehen. Seine Oberlippe zitterte, und die Ader an der Schläfe pochte. Sie fragte ihn nichts mehr, weil sie die Antwort kannte. Nach fünf Jahren ging man nicht los und suchte einen Menschen, den man inzwischen längst verloren glauben musste. Nach fünf Jahren waren Aufruhr und Bürgerkrieg gekommen, und die Welt hatte sich weitergedreht. Ihre Wut wich grenzenloser Trauer. Sie ging zu ihm, legte die Arme um seine Schultern und ihr Gesicht an seinen Hals. »Hör jetzt auf, dir weh zu tun, ja? Du bist genauso betrogen worden wie ich, wir haben teuer bezahlt und wissen nicht einmal, warum man uns das angetan hat.« Weinend küsste sie ihn. »Danke, dass du mich geliebt hast, Benito. Ich habe mich von keinem Menschen so geliebt gefühlt wie von dir, und es war das Schönste in meinem Leben.« Als sie ihn noch einmal küsste, schmeckte sie Salz. Sie drückte ihn an sich.
»Ichtaca«, sagte er rauh an ihrem Ohr. »Ich weiß, warum man uns das angetan hat. Es ist nicht mein Recht, es dir zu erzählen, ein anderer wird es tun, aber es ist wichtig, dass du erfährst, dass die, die es getan haben, dich schützen wollten, nicht dir schaden. Das zu wissen hilft beim Weiterleben.«
Sachte strich er ihr die Tränen vom Gesicht, hob sie aufs Pferd und wollte wieder an dessen Kopfzeug treten. Da sie nicht sprechen konnte, hielt sie ihn fest, und er stieg hinter ihr auf. Für das kurze Stück Weg, das noch vor ihnen lag, war ihr einerlei, dass sie die Zeit nicht zurückdrehen konnten, dass sie ihn nicht haben und auch keine Hoffnung in ihm wecken durfte, dass sie ihre Chance verpasst hatten. Sie lehnte sich an ihn, legte ihre Wange dorthin, wo sein Hemd am Hals offen stand, und weinte. Irgendwann begann seine Hand, die sie hielt, sie zu streicheln.
Das Tal, in dem unter einem Affenbrotbaum das Haus seiner Familie stand, war ein Idyll aus Maisfeldern, Viehweiden und Reihen rotgesprenkelter Kaffeepflanzen. Sie rannten alle herbei, um ihn zu begrüßen, ein Mann, zwei Frauen, ein halbwüchsiger Junge, der Handschuhe trug, und ein Haufen Kinder. Sie zogen ihn in die Arme und redeten sprudelnd aufeinander ein, ohne dass Katharina ein Wort verstand. Nahuatl, dachte sie traurig. Ich hätte es so gern gelernt. Es kommt mir vor, als würde ein Teil von mir fehlen.
Benito gab ihr die Hand, um ihr vom Pferd zu helfen. »Meine Familie will dich begrüßen, Ichtaca«, sagte er auf Deutsch. »Kann ich dich eine halbe Stunde mit ihnen allein lassen? Mein Freund Carlos ist gestorben. Ich möchte gern zu seinem Grab.«
Eine schöne Frau in einem grüngemusterten Rebozo trat vor sie. »Kommen Sie, Katharina«, sagte sie auf Spanisch. »Ich zeige Ihnen den Rancho, wenn Sie wollen.« Es war Carmen. Das Mädchen, das sie damals, am Dia de los Muertos, ins Haus geholt hatte. Sie nickte Benito zu und führte Katharina den Pfad zwischen den Maisfeldern entlang. »Seien Sie Benito nicht böse«, sagte sie. »Er und mein Mann haben einander wie Brüder geliebt.«
»Carlos war Ihr Mann?«
Sie nickte.
»Es tut mir leid«, sagte Katharina.
»Danke. Er war lange krank und ist in Frieden gestorben. Wir waren glücklich. Dafür bin ich dankbar.«
Kam es Katharina nur so vor, oder musterte Carmen sie von der Seite? »Wollen Sie ins Haus und sich ausruhen?«, fragte sie nach einer Weile. »Sie müssen ja hungrig sein.«
»Ich weiß nicht …«, begann Katharina.
Carmen lachte und winkte ab. »Nur keine Furcht vor der Mutter. Der ist einerlei, mit wem Benito gekommen ist, solange sie ihn nur heil und lebendig wiederhat. Alle anderen Männer in ihrem Leben hat ihr jemand getötet – ihren Vater, ihren Mann, den Paten ihrer Kinder und Miguel.
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