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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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anschließend dürfen die Erwachsenen sich im Walzer verlustieren.«
    Katharina hatte das Gefühl, unter den Stangen des Fischbeinkorsetts zu zerfließen. Ihr Atem ging in Stößen, doch sie hätte ewig weitertanzen wollen. Der Walzer war Kindern verboten, er war ein bisschen frivol, weil der Herr dabei den Arm so um die Dame legte, dass er in der Drehung ihre Hüfte berührte, und gerade weil der köstliche Duft des Verbotenen daran haftete, hätte sie sich liebend gern darin probiert. Ob wohl Jette alt genug war? Sie blickte sich nach dem pfirsichfarbenen Kleid um und entdeckte es unter dem Fenster, das einen samtblauen Himmelsausschnitt frei ließ. Der Ichsager verbeugte sich wortreich vor Jette, vermutlich bat er sie um einen Tanz. Na, bei Jettes flinkem Mundwerk bekam er gewiss kein einziges Ich heraus.
    Die Limonade wurde in hohen gezuckerten Kelchen gereicht, die mit in Locken geschnittener Zitronenschale verziert waren. Katharina schloss die Augen und sog den köstlichen Duft ein. »Halt!«, rief Traude und brachte die Geige, die zum Auftakt ansetzte, zum Schweigen. »Noch nicht tanzen. Erst wollen wir das Bild machen, gerade jetzt, wo alles so glücklich aussieht und so wunderschön.«
    Hatte die Tante getrunken? Sie klang kein bisschen griesgrämig, wie man sie kannte, sondern vor Freude außer sich. Auf ihren Stefan musste sie wirklich stolz sein – so stolz wie Onkel Fiete, der ständig damit prahlte, wie viel Gewicht seine Kinder auf die Handelswaage brachten, als würde er sie persönlich in die Schalen wuchten.
    Katharina hatte angenommen, allein Stefan solle von dem Fotografen porträtiert werden, doch Luise kam keuchend herüber und verkündete: »Stellt euch vor, wir alle werden aufgenommen! Stefan sagt, er will mit uns aufs Bild – mit seinen schönen Basen!«
    Ein Stuhl wurde in die Mitte gestellt und darauf Stefan steif wie ein Garderobenständer plaziert, während die Mädchen in ihren rauschenden Kleidern, mit gelösten Haaren und glühenden Wangen sich um ihn herumgruppierten. Auf dem Bild, hatte Hermann erklärt, würde man die Farben nicht sehen, aber Katharina konnte sich nicht vorstellen, dass das möglich war. Wie sollte denn so viel Farbe verlorengehen, floss sie aus dem Kasten heraus?
    »Sie müssen stillhalten, meine Damen«, jammerte der Fotograf, der unter allerlei Mühen sein Stativ herangeschleppt und die Voigtländer neu montiert hatte. »Nicht die kleinste Bewegung, mindestens so lange, wie Sie brauchen, um bis zehn zu zählen.«
    Aber die Mädchen konnten nicht stillhalten, sie konnten sich ja nicht einmal einigen, wer hinter dem Stuhl stehen, wer danebenhocken und wer mit ausgebreiteten Röcken davorsitzen sollte. Wie die Kolibris schwirrten sie um Stefan herum, denn so, wie sie sich jetzt stellten, wie sie lächelten und die Köpfe hielten, würden sie auf alle Zeit bewahrt sein. So, wie ich jetzt bin, bleibe ich übrig – ein Mädchen im grünen Kleid mit verschwitztem, grässlichem Haar, ein Mädchen, das gestern Nacht zur Frau geworden ist.
    Endlich wurde entschieden, dass Stefans Schwester Helene, die ohne Brille blind wie ein Maulwurf war und geführt werden musste, hinter dem Stuhl ihres Bruders stehen sollte, dass Luise und Jette an den Seiten plaziert wurden und dass Jo und Katharina sich an seine Beine gelehnt vor ihm drapieren sollten. »Alle lächeln!«, rief der Fotograf. »Und still sitzen, bitte. Wenn sich einer rührt, ist das Bild verdorben.«
    Katharina ballte die Fäuste im Schoß und betete, dass keiner sich rührte, weder die zitternde Jo noch die kichernde Luise, damit ihr kostbares Bild nicht verdorben war. Sobald nämlich die Platte in der Kamera das Bild gefangen hatte, musste es schleunigst hinüber in Tante Traudes Mädchenkammer getragen werden, wo der Fotograf seine Schalen mit Tinkturen aufgestellt hatte, und dort, in völliger Dunkelheit, würde es sich über giftigen Dämpfen entfalten. Im letzten Augenblick dachte Katharina daran, die Oberlippe zu schürzen, weil Lise gesagt hatte, sie habe schöne, wenn auch zu starke Zähne. Und die Augen offen halten! Die Zeit, die sie brauchte, um bis zehn zu zählen, dehnte sich endlos aus. Zu allem Unglück rutschte Stefans Stuhl zur Seite, weil Jette dagegenschwankte, aber die Aufnahme war schon im Kasten. Der Fotograf zog die Platte heraus und flüchtete aus dem Raum. Die Anspannung löste sich in Gelächter auf.
    Wie gut, dass es dieser Augenblick war, dachte Katharina. Dass wir, als das Bild uns

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