Im Land der gefiederten Schlange
antworten. Dieser Carlos war ein feiner Kerl, weder mit geistigen noch mit körperlichen Gaben gesegnet, aber so grundanständig wie hausgebrannter Schnaps. In seiner Gegenwart würde Miguel sich hüten, noch einmal von Dingen anzufangen, von denen er nichts hören wollte.
Benito nahm den Mezcal-Becher und hielt ihn Carlos hin. Der leerte ihn bis zur Hälfte und gab ihn zurück. »Hab Dank. Auch dafür, dass du ein Auge auf meine Base hast. Ich weiß, sie ist ein wildes Ding, sie hat ihrer Mutter viel Kummer gemacht, aber sie ist das einzige Mädchen in meiner Familie. Ich bin zehn Jahre älter als sie, und sie war mir immer wie eine kleine Schwester.«
»Sie ist ein gutes Mädchen«, entgegnete Benito, »kein Grund, sich um sie zu sorgen.« Bei sich dachte er: Diese Lügerei ist das Menschlichste, was ich heute getan habe. Womöglich gibt es nichts Besseres als lügen, was ein Mensch für einen anderen tun kann. Das war auch zynisch, aber Miguel hatte ja nichts davon gehört. Benito trank Mezcal. Die Flüssigkeit war scharf und bitter und brannte für kurze Zeit etwas in ihm aus.
Inez molk Ziegen. Xochitl hätte es selbst tun können, aber Xochitl war eine schnippische Hexe. »Wenn du schon bei uns schmarotzt, kannst du wenigstens etwas dafür tun«, hatte sie gesagt und Inez den Holzeimer hingestellt, in dessen Innenseite für jeden Liter eine Kerbe eingeritzt war, damit Xochitl nachmessen konnte, ob Inez von der Milch einen Tropfen gestohlen hatte. Einen Liter Milch gab jede Ziege, und drei Liter wollte Xochitl im Eimer sehen, andernfalls zog sie Inez etwas vom Frühstück ab. Verfluchte Xochitl! Weshalb ließ die sich überhaupt bei diesem abscheulichen Heidenwort von einem Namen rufen, statt ihren christlichen Taufnamen zu benutzen? Inez hätte ihr am liebsten die den Ziegenzitzen abgepresste Milch vor die Füße geschüttet und ihr gesagt, ihr solle ihr mickriges Frühstück im Hals stecken bleiben.
Sie hasste die Vorstadt mit ihren verfallenen Hütten, dem Gestank nach Fäulnis, schlechtem Essen und der ewig feuchten Wäsche, den gekrümmten Gestalten und den uralten Gesichtern, wie sie das Bergdorf in Querétaro gehasst hatte. Einmal im Jahr war ihr Vetter gekommen, und jedes Mal hatte sie ihn angefleht, sie aus dem Elend fortzuholen und mit in die Stadt zu nehmen. Dann war ihre Mutter gestorben, Carlos hatte endlich zugestimmt, und Inez hatte sich am Ziel ihrer Wünsche geglaubt. Hochfliegende Träume hatte sie gehegt, von den Möglichkeiten, die sich ihr in der schillernden Metropole bieten würden, wie von dem Vergnügen, das es bereiten würde, sie zu nutzen. Inez wusste, solange sie denken konnte: Sie wollte nach oben, dorthin, wo sie den Dreck, der ihr an den Füßen klebte, nicht mehr roch. Sooft sie sich das Leben in der Stadt ausmalte, sah sie sich in strahlendem Weiß, einer Farbe, an die auch nicht das kleinste Stäubchen kommen durfte.
Von wegen Stäubchen. Mit dem Dreck der Vorstadt hätte man ein weißes Kleid pechschwarz färben können, und ihre Mädchenträume waren über Nacht im Unrat erstickt. Inez ließ die Zitze fahren und hielt sich die Nase zu, weil die Ziege, die sie abgemolken hatte, ihr Geschäft erledigte. Ein Strahl der kostbaren Milch spritzte ins Stroh. Zum Teufel damit! In ihrem Heimatdorf hatte sie sich um Ziegen nie zu kümmern brauchen, sie war die angehimmelte Base unter lauter Vettern gewesen, und die Schar der Jungen riss sich darum, ihr zu Diensten zu sein. Und hier? Hätten nicht auch Xochitl und ihre ewig hustende Mutter ihr die widerliche Arbeit ersparen müssen, war sie nicht die Verlobte des Sohnes, der man die Eingewöhnung hätte leichtmachen sollen?
Nicht dass sie vorhatte, ihre Verlobung mit Miguel in eine Heirat münden zu lassen. Eher wollte sie sterben, als ihr Leben an einen Verlierer zu vergeuden. Außerdem waren ihre Träume längst wiederauferstanden, auch wenn sie jetzt reifer und forscher waren und ein Gesicht bekommen hatten. Einen Namen ebenfalls:
Benito.
Der Gedanke, der Ersehnte könne ausgerechnet jetzt seine Mutter besuchen und Inez im Stall und mit verdrecktem Rock vorfinden, bereitete ihr nicht weniger Übelkeit als der Gestank nach Ziegenscheiße. »Carmen«, rief sie aus dem stickigen Verschlag hinaus ins Freie, »Carmen, hilf mir!« Wie so oft würde Carmen im spärlichen Schatten der Bananenstaude sitzen und gesammelten Tabak zu Zigaretten drehen. Sobald sie die Hilferufe hörte, würde die dumme Gans, die sie als Rivalin um
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