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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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jeden Morgen eine Unze Gold wachse, und dass er sie so sehr liebhabe, dass die Liebe im Weltmeer keinen Platz finde.
    Über das Ereignis hatten sie nie miteinander gesprochen. In den bangen Tagen danach, in denen Katharina gehofft hatte, Ben werde eines Tages wieder in der Box des Falben stehen, hatte sie manchmal erwogen, den Vater zu fragen: Was hast du Ben angetan, wo ist er jetzt, und warum um alles in der Welt hast du das fertiggebracht? Sie hatte ihn nicht gefragt, weil es nicht möglich war. Dass sie nach dem Entsetzlichen, das sie gesehen hatte, dem Vater Fragen stellte, war undenkbar. Der Vater konnte ihr nicht helfen, und auf Jo brauchte sie erst recht nicht zu zählen. Die plapperte weiterhin jedes Wort ihrer Gerlinde nach, und außerdem verstand sie von solchen Dingen keinen Deut.
    Von solchen Dingen.
    Um welche Dinge es eigentlich ging, fragte Katharina sich selbst, während sie wieder einmal in der Nachmittagshitze ins Viertel der Engländer trottete, nachdem ihr ein Arbeiter aus der Fabrik für ein paar Münzen anvertraut hatte, dass Ben heute nicht eingeteilt war. Weshalb brauchte sie um jeden Preis Ben? Weshalb verbiss sie sich, warf ihren Stolz in den Wind und war unfähig, loszulassen? Es war fast Oktober, der Sommer so gut wie vorüber, und sie hatte ihn damit zugebracht, einem Mann hinterherzuhecheln, der sie behandelte wie einen lästigen Straßenköter.
    Einem Mann.
Das war es. Ein Schauder lief über ihren Rücken, der eine seltsam wohlige Furcht auslöste. Das trotzige Kind fiel ihr ein, das Ben versichert hatte, sie werde ihn heiraten und er sei der schönste Mann auf der Welt. Von jenem Kind fühlte sie sich so weit entfernt wie Mexikos umkämpfte Nordgebiete von Veracruz. Aber die Worte des Kindes trafen noch immer. Dabei wusste sie nicht einmal, ob Ben schön war. Er hatte schöne Hände. Und er war der einzige Mann auf der Welt.
    Ihn mit der Silberblonden, die Helen hieß, zu sehen, versetzte ihr einen Stich, der sich kaum aushalten ließ. Daheim hatte sie die Lise, die ihr Zöpfe flechten wollte, zornig zur Seite geschoben und versucht sich das Haar wie jene Helen aufzustecken, aber in ihrem grässlichen Haar blieb keine Nadel haften. Schließlich hatte sie vor Wut nach einer Schere gegriffen und sich eine Strähne aus der Stirn geschnitten. Natürlich sah sie danach keineswegs hübscher aus, aber dem verfluchten Haar dabei zuzuschauen, wie es schlaff zu Boden segelte, bereitete ihr grimmige Befriedigung.
    Bei Lise hatte sie sich entschuldigen müssen, denn schließlich brauchte sie deren Komplizenschaft. Auch heute hatte sie sie wieder bestochen, damit ihr der Nachmittag frei für ihre Jagd auf Ben blieb. Immer unwohler fühlte sie sich dabei, der Lise das Geld auszuzahlen, das die Mutter ihr für Sprachstunden gab, und mit ihrem Englisch war sie den Sommer über nicht vorangekommen. Die Stimmung daheim war bedrückt, die Blockade dauerte an, so dass die Sanne mit mexikanischen Gewürzen kochen musste, Onkel Fiete trauerte um Jette, und wegen einer albernen Einladung zum Konsul redete Tante Traude nicht mehr mit Tante Dörte. Es war nicht recht, die Mutter, die sich mit all diesen Sorgen plagte, zu hintergehen. Zuweilen konnte Katharina ihr nicht einmal in die Augen sehen, so sehr schämte sie sich.
    Es ging so nicht weiter! Inmitten der Allee, die auf Helens Gasse zulief, blieb sie stehen. Sie war es ihrer Familie, aber ebenso sich selbst schuldig, mit diesem Irrsinn aufzuhören. Konnte sie sich etwa die hochnäsige Helen vorstellen, wie sie einem Mann hinterherlief, der nichts von ihr wollte? Ich werde es ihm noch einmal sagen, beschloss sie, nur noch einmal, und wenn er mich dann immer noch nicht will, gebe ich auf. Der Gedanke an die Leere, die sie schon einmal durchlebt hatte, an lange, ereignislose Wintertage ohne Hoffnung, nahm ihr fast den Atem. Dann aber entdeckte sie etwas, das sie von dieser trüben Aussicht ablenkte.
    Nicht etwas, sondern jemanden. Einen Mann, den sie kannte, den sie bereits zum sechsten Mal hier sah und der hier nicht hergehörte. Ihren Vetter Stefan. Der war zwar bei Engländern angestellt, doch das Kontor, in dem er tätig sein sollte, lag im Hafen, nicht hier. Dafür, dass er heimlich herkam, sprach auch, dass er es tunlichst vermied, Katharina zu begrüßen.
    Schluss mit den Heimlichkeiten! Katharina stemmte die Hände in die Hüften und rief zu ihm hinüber: »He, Stefan! Was treibst du denn hier?«
    Er zuckte zusammen, ehe er steif den Kopf wandte.

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