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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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Norden geschickt, auch wenn es bei den endlosen Wegen durchs Land womöglich nie ankam. Gegen die Kälte der Hochlandnächte sollten die Männer in ihren Uniformen schlafen, die dadurch noch schneller verschlissen und unbrauchbar wurden.
    Klamme Kälte und regennasse Zelte waren nicht das Schlimmste, das den Männern drohte. Wenn sie tatsächlich zum Einsatz auf die Bergkämme oberhalb der Straßen geschickt wurden, wenn der Krieg von den Nordgebieten ins Landesinnere schwemmte, würde es kaum noch möglich sein, sie mit Proviant zu versorgen. Die Soldaten sollten vom Land leben, lautete die Parole, die die Regierung ausgab. Aber was bitte gab das Land in diesen Bergen her? Kräuter, Gusano-Würmer, Heuschrecken und Fleisch von Leguanen? Davon konnte kein Mann, der kämpfte, lange überleben.
    Die Regierung! Benito stöhnte. Konnte man überhaupt noch sicher sein, wer das war? Seit dem Ende der Kaiserherrschaft Iturbides war kein Präsident die volle Amtszeit über im Sattel geblieben, und gerade waren wiederum zwei ihres Amtes enthoben worden. Den schwächlichen Volksredner Paredes hatte man mitsamt seiner Träume von der Monarchie ins französische Exil geschickt. Ein paar Tage lang hatte ein Militär namens Nicolas Bravo den undankbaren Posten ausgefüllt, und seit kurzem tat es General Mariano Salas, von dem es hieß, er stehe in ständigem Kontakt mit Santa Anna.
    Eine weitere Zwischenlösung, dessen war Benito sicher. Nicht ohne Grund hatte Santa Anna sein kubanisches Exil verlassen, hatte die Blockade der Amerikaner durchlaufen und war in Veracruz gelandet. Über kurz oder lang würde er sich das Land unter den Nagel reißen und im Namen seines Unterschenkels in verheerende Schlachten treiben. Bei Palo Alto und bei Resaca de la Palma war die mexikanische Armee bereits vernichtend geschlagen worden, doch das mochte harmlos sein gegen das, was ihnen unter dem selbsternannten Napoleon bevorstand.
    So schlagartig, wie am Morgen die Sonne aufgegangen war und den Himmel in Flammenfarben getaucht hatte, geschah es auch jetzt bei ihrem Untergang. Benito musste sich beeilen, wenn er vor Einbruch der Dunkelheit das Lager erreichen wollte. Weshalb dachte er überhaupt über die Regierung Mexikos nach, da sich schon morgen alles wieder ändern konnte? Um nicht an anderes zu denken, gestand er sich ein. An Frauen. An Carmen, die ihm auf dem Gewissen lag, und an Helen, deren Umarmungen begannen ihn anzuöden. Vor allem aber an ein dreistes Geschöpf mit geradezu gewaltsam blauen Augen, das ein Kind hätte sein sollen, aber keines mehr war.
    An sie zu denken demütigte ihn. Ihre Gegenwart, die sich nicht abschütteln ließ, schlug Sprünge in die Schutzhaut, die er mit so viel Mühe um sich aufgebaut hatte. Es war unmöglich, ihr auszuweichen, sie klebte an seinen Fersen, und wenn er ihr hundertmal sagte, sie solle sich zum Teufel scheren. Voll Ingrimm wünschte er sich, dass sie aus seinem Leben verschwand, und dennoch, gerade jetzt, da das rote Licht an Kraft verlor, wünschte etwas in ihm, sie wäre da. Einmal glaubte er sogar, wie gewohnt ihre Schritte hinter seinen zu hören, fuhr herum und starrte ins Gesicht des Maultiers. Wider Willen musste er lachen.
    Das Lager befand sich auf einem schmalen Plateau, einer wie in den Fels gehauenen Spalte, die für den, der nichtsahnend aufstieg, hinter einem Vorsprung verborgen blieb und damit ein ideales Schlupfloch darstellte. Das Gelände war weitläufiger, als es auf den ersten Blick wirkte. Eine Einheit von vierzig Mann samt ihrem Stab von noch einmal zwanzig fand hier Platz, auch wenn Benito sich fragte, wozu dieser riesige Stab nötig war. Mindestens fünf der Offiziere hatten Pferde mit heraufgezerrt, die sie hier oben nicht brauchen konnten und bei Abbruch des Lagers zurücklassen mussten. Es war schwer genug, sich vorzustellen, wie die hochbeinigen Tiere den Aufstieg bewältigt hatten. Nie und nimmer würden sie es in die Tiefe schaffen.
    Benito führte das Maultier um den Vorsprung herum. Die Wegkuppe, die den einzigen Zugang in das Hochtal bildete, war so schmal, dass ein Mann zur Bewachung genügte. Der vierschrötige Gefreite, der ihm die Mündung der Muskete entgegenhielt, erkannte ihn sofort. Er ließ die Waffe sinken und jubelte hinunter auf das Plateau: »Hoher Besuch, Miguel! Wenn’s was zum Rauchen gibt, dann denk an mich!« Als er sich Benito zuwandte, lächelte er geradezu scheu. »Daheim alles in Ordnung?«, fragte er.
    Wen er mit »daheim« meinte, wusste

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