Im Land der gefiederten Schlange
Benito. Inez. Seine Base. Noch eine Frau, an die zu denken er hasste. »Alles bestens«, versicherte er Carlos, und dieselbe Antwort würde er seinem Bruder geben, auch wenn sie keinesfalls der Wahrheit entsprach. Die verfluchte Inez war ein Biest sondergleichen. Ungeniert warf sie sich ihm an den Hals, sooft er in die Vorstadt kam, aber damit wollte er weder ihren Vetter, der ihm dankbar entgegenlächelte, noch ihren Verlobten, der winkend den Hang hinaufeilte, belasten.
Die Vorräte wurden bestaunt und dem zuständigen Offizier übergeben, das bisschen Tabak und die übrigen Geschenke behielt Benito bei sich, bis Miguel den Abendappell hinter sich gebracht hatte. Dieser Appell auf einem viel zu kleinen Viereck war so lächerlich, dass er sich abwenden musste. Die meisten der Männer wirkten auch nach drei Monaten noch, als wäre die Muskete in ihren Händen ein Gegenstand aus einer anderen Welt, und für die meisten war sie das. Benito schätzte, dass höchstens jeder Zehnte vor seinem Eintritt in die Armee schon einmal eine Schusswaffe in der Hand gehalten hatte. Und vielleicht jeder Hundertste hatte eine abgefeuert. Da Mexiko über keine eigene Waffenproduktion verfügte, hatte man veraltete Musketen in Europa aufkaufen müssen, die höchstens aus nächster Nähe taugten. Auf größere Reichweite war es praktisch unmöglich, zielgenau damit zu feuern.
Die Nacht war heraufgezogen. Nur ein paar aufgesteckte Fackeln und die Feuer der Offiziere erhellten das Hochtal. Die Reihen der Männer wurden aufgelöst. Miguel sprach kurz mit einem Mann in frisch gebürsteter Uniform, der vor den Soldaten seinen Schimmel tänzeln ließ, dann kam er herüber zu Benito.
»Hola, kleiner Bruder. Du bist ein Trost für wunde Augen, und obendrein hat mein Capitán mir die Erlaubnis erteilt, mit dir allein zu essen.« Sein Strahlen wirkte bemüht, als er den Blechkanister vom Gurt löste und den Deckel öffnete. Ein halber Laib Brot und ein paar trockene Streifen Fleisch kamen zum Vorschein. »Wir werden teilen müssen. Du weißt ja, im Augenblick ist alles knapp …«
Und der Augenblick könnte Jahre dauern, dachte Benito, aber er sagte nichts, sondern folgte Miguel in eine Nische, die der Felsen bildete. Hier hatten sie schon bei seinen früheren Besuchen beisammengesessen. Es erinnerte Benito an Abende in seiner Kindheit, wenn sie sich nach harten Tagen in einer leeren Box zusammengedrängt hatten. Trotz aller Sorgen und obwohl das feuchte Holz ewig nicht Feuer fangen wollte, wurde ihm warm. »Ich bringe dir ein paar Geschenke zum Namenstag«, sagte er und öffnete die Schnallen seines Rucksacks.
Den Packen Tabak nahm Miguel gierig entgegen, zog sogleich ein Blatt hervor und begann sich mit fliegenden Fingern eine Zigarette zu drehen. »Du glaubst gar nicht, wie einem das fehlt.«
»Ich sehe es.« Benito zog eine Flasche Mezcal aus dem Rucksack. Lieber hätte er dem Bruder eine Decke gebracht, aber das hätte Neid unter den Kameraden geschürt, während der Alkohol die Nacht nicht überstehen würde. Wie erwartet stieß Miguel einen Freudenschrei aus. »Das ist ein feiner Zug von dir, kleiner Bruder. Damit feiern wir zwei ein fürstliches Fest.«
Müde nickte Benito und förderte einen verschlossenen Tontopf zutage. Sooft die Spitze von Miguels Zigarette aufglomm, sah Benito, wie eingefallen seine Wangen waren, wie verfilzt sein Schnurrbart, auf den er so stolz gewesen war, und wie glanzlos seine Augen. »Wer schickt das?«, fragte Miguel mit einem Funken Hoffnung in der Stimme. »Inez?«
Benito nickte. In Wahrheit hatte er Carmen gebeten, Miguels geliebte Mole Poblano aus Chilischoten, Knoblauch und Schokolade für ihn zu kochen. Aber dem Bruder das zu sagen, brachte er nicht übers Herz.
Miguel öffnete den Deckel, steckte einen Finger in die dunkle Masse und leckte ihn genießerisch ab. »Ist das nicht köstlich?«, murmelte er vor sich hin. »Ist das nicht all unsere Opfer wert, die Liebe unserer süßen mexikanischen Mädchen?«
Das war der alte Miguel, der Schwärmer, der vor Begeisterung jede Sorge vergaß. Benito hasste sich, aber schweigen konnte er nicht. »Unsere süßen mexikanischen Mädchen bräuchten Männer, die Geld für sie verdienen.«
Miguel glitt der Finger aus dem Mund. »Geht es Inez nicht gut? Du hast gesagt …«
»Ja, ich habe gesagt, dass ich mich um sie kümmere, eine andere Wahl hast du mir ja nicht gelassen. Aber ich kümmere mich auch um Carmen, deren Bruder sich wie üblich nur, wenn er
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